So weit wie noch nie — Die neue Vielfalt der Kölner Clubszene

Die Clublandschaft in Köln und im Umland ist so vielfältig wie lange nicht mehr. Egal ob Afrobeats, EDM, Techno oder HipHop — für jeden Stil gibt es die passende Veranstaltung. Viele Locations ­bemühen sich um eine Atmosphäre, in der sich alle wohl und sicher fühlen und garnieren das mit einem guten Sound. Trotzdem schauen viele Clubs unsicher in die Zukunft. Wo liegen die Herausforderungen? Wie wollen Clubs sie bewältigen? Wir haben uns in der Szene umgehört

»Du kommst von dahinten«, sagt Bernd Rehse und zeigt in Richtung Ehrenfeldgürtel, »läufst siebzig Meter und gehst hier herunter. Dann verlässt du Köln und bist trotzdem mittendrin.« Vor Rehse befindet sich ein fast leerer Hof, ein paar Kreuze aus Kreide auf dem Boden deuten darauf hin, dass hier bald etwas Neues entstehen soll: ein »Canyon aus Containern«, flankiert von zwei Biergärten, direkt neben dem Artheater, dem Club, den Bernd Rehse seit mehr als einem Vierteljahrhundert betreibt. Theater wird hier nicht mehr gespielt, dafür Jazz und ­andere Konzerte. Und schon lange ist das Artheater ein fester Bestandteil der Kölner Clubszene. Roland Casper hat hier früher seine »Psycho Thrill«-Partys veranstaltet, später haben Partyreihen wie »Lichtblick« oder »Hasenbau« ihre Heimat hier gefunden. Auch die queere Partyreihe »Backstage Diaries« residiert auf den beiden Etagen des Artheaters.

Im Dezember 2024 wurde bekannt, dass Bernd Rehse und sein Partner Stefan Bohné das Nachbargrundstück des Artheaters gekauft haben — eine erstklassige Lage mitten im gentrifizierten Ehrenfeld. Jetzt muss alles schnell gehen. »Heute kommt der Schallschutzexperte«, erzählt Rehse, als wir uns einen Tag vor Weiberfastnacht treffen. Im April schon soll der Betrieb losgehen, die Biergartensaison ist ökonomisch zu wichtig, um sie ungenutzt zu lassen. Bis dahin ist noch viel zu tun. Außer den Containern fehlt auch noch das Herzstück des Biergartens: die Bar. Sie soll dort einziehen, wo lange die Büros und Verkaufsräume der Autowerkstatt waren, die früher auf dem Grundstück ansässig war. Bei unserem Besuch ist der ehemalige Verkaufstresen mit Baustaub bedeckt, die Wände sind unverputzt. Aber dank des großen ­Oberlichts wirkt der kleine Raum trotzdem gemütlich — man kann sich gut vorstellen, dass er demnächst für »kleine Lesungen« genutzt wird, wie Rehse erzählt. Ein Stockwerk tiefer führt Rehse uns in die ehemalige Werkstatt, etwa zehn  Meter lang und sechs Meter breit. Ein alter Kühlschrank steht an einer Wand, vor die andere soll noch eine niedrige Bühne gebaut werden. »Ein besonderer Ort«, sagt Rehse. »Du guckst kein Konzert, sondern bist im Konzert.« 60 bis 80 Leute passen in diesen Keller, er sei bereits mit mehreren Konzertveranstaltern im ­Gespräch wegen des Programms, erzählt Rehse. »Es geht um Punk — aber im Sinne von: Punk im Kopf.«

Clubsterben ist in Köln kein Thema — im Gegenteil

Aber auch Punk existiert nicht ohne Bürokratie. Direkt neben dem Artheater befindet sich die ehemalige Hauptpost von Ehrenfeld. Das Gebäude steht leer, das Grundstück ist an einen Investor verkauft. Lange war geplant, dort Wohnungen zu bauen. Für die Clubs in unmittel­barer Nähe — das Artheater, Bumann & Sohn und den Club Bahnhof Ehrenfeld — hätte das zu einem größeren Problem werden können. Am Wochenende sind die ­Straßen dort voller Menschen, und Menschen auf der Straße bedeuten Lärm, gegen den Anwohner:innen ­klagen können. So wie am Brüsseler Platz.

Die Ratsbündnis aus Grünen, CDU und Volt beschloss im Sommer 2023, dass rund um die Ehrenfelder Clubs eine »Kulturraumschutzzone« gilt, die bei zukünftigen Bauvorhaben ihre Existenz sichern soll. »Es hat sich etwas in der Politik verändert«, sagt Bernd Rehse. »Es gibt ein Bewusstsein dafür, dass man diese Räume braucht, um Köln am Leben zu erhalten.« Vielleicht sind es auch die Lehren aus der unmittelbaren Vergangenheit: Ein großer Teil der Clubs, in denen vor 15 Jahren gefeiert wurde, gibt es heute nicht mehr. Wo früher Papierfabrik, Sensor und die Werkstatt standen, befindet sich heute die GAG-Siedlung Grüner Weg, auf dem Gelände des Heinz Gaul an der Vogelsanger Straße steht ein Häuserkomplex mit Hotel und Fitnessstudio — eine Entwicklung, die der ­grüne Ehrenfelder Bezirksbürgermeister Volker Spelthahn als »Niederlage« bezeichnet hat.

Derzeit ist Clubsterben jedoch kein Thema, im Gegenteil. In der Szene wird von zwei neuen Locations ­gesprochen, die bald eröffnen sollen. Lange Schlangen bilden sich nicht nur vor den Ehrenfelder Clubs, sondern auch vor dem Gewölbe am Bahnhof West oder dem Bootshaus in Deutz. Längst hat jeder Sound seine eigene Party. Im Bootshaus dominieren EDM oder Peaktime Drum’n’Bass, im Gewölbe Techno, LoFi House oder Minimal. Im kleinen Jaki finden experimentelle Styles den Weg auf die USB-Sticks der DJs, im Subway an der Aachener Straße oder im Club Bahnhof Ehrenfeld gibt es Partys mit Musik aus dem globalen Süden. Wer lieber unter freiem Himmel feiert, kann dies immer noch im Odonien oder auf den riesigen Pollerwiesen Open-Airs tun.

Und dann ist da noch das »fi« in Müngersdorf: ein Neubau auf zwei Etagen mit exzellentem Soundsystem und einem vielfältigen Programm. Im März etwa legt an einem Wochenende der amerikanische DJ DVS1 mini­malistischen, strengen Techno auf, während am nächsten Wochenende die Kölner FLINTA-DJ Crew E.P.I.Q. die britische Bassmusik-Produzentin Anz zu Besuch hat. Heute wird das fi gefeiert, aber vergangenes Jahr war es über Monate in der Szene ein Thema, dass sich die ­Abnahme des eigentlich fertigen Baus durch die zuständigen Ämter hingezogen hat. Bernd Rehse ist erst mal ­zuversichtlich, wenn man ihn auf die noch ausstehenden Genehmigungen für sein neues Projekt anspricht, meint aber auch: »Wir kennen Köln.«

Es geht um Punk, aber im Sinne von »Punk im Kopf«Bernd Rehse, Artheater

Dabei kann es auch gut laufen. »2016 hat die Stadt Wuppertal bei meinem Bruder Thomas angerufen und von ­einem Bunker beim Hauptbahnhof erzählt, den sie reaktivieren wollte«, erzählt Markus Riedel. »Und auf Platz eins ihrer Wunschliste war ein Musikclub.« Damit war sie an der richtigen Adresse. Thomas Riedel, der Bruder, besitzt in Wuppertal eines der führenden Unternehmen für Sendetechnik im Audio- und Videobereich und verfügt über die finanziellen Ressourcen, einen Bunker zu einem Club umbauen zu lassen. Markus Riedel hatte es in den 1980er Jahren von Wuppertal nach Berlin verschlagen, wo er später lange im Hardwax arbeitete, einer Institution unter den Berliner Techno-Plattenläden. Geführt wird dieser vom Elektronik-Producer Mark Ernestus, den Markus Riedel schnell mit ins Projekt-Team holte: »Wir haben gleich gesagt dass die Planung beim Klang im Raum anfangen muss«, sagt Riedel. »Mir war sofort klar, da kann etwas entstehen.« Die Stadt Wuppertal sah es ­genauso und gab ihm den Zuschlag.

Bis etwas entstanden war, sollte es aber noch sieben Jahre dauern. Einen Bunker in einen Club zu verwandeln, bedeutet einen hohen, risikoreichen Aufwand. Wenn dann noch eine Pandemie dazukommt, verzögert sich die Fertigstellung weiter. Geholfen habe ihnen dabei, dass der Club Teil eines größeren städtebaulichen Projekts ist: der Umgestaltung des Wuppertaler Bahnhofsumfeld, ­inklusive der Überdeckelung einer mehrspurigen Straße, sagt Markus Riedel: »Die Stadt hat sogar die Planung des Platzes um den Club herum noch mal geändert.«

Im Dezember 2023 öffnete der Club dann schließlich — unter dem programmatischen Namen Open Ground. Über eine Freitreppe steigt man mehrere Meter an dicken Betonquadern hinab in einen offenen Schacht — und ­landet an einem Ort, bei dem das Sounderlebnis über ­allem steht. Bei meinem ersten Besuch im Februar 2024 spielte der Londoner Bassmusik-DJ Pearson Sound. Sein Set springt zwischen den Genres: alberne Rave-Fanfaren folgen auf hyperkomplexe Beats, die live aus einzelnen Spuren collagiert werden. Nach einiger Zeit auf der Tanzfläche setze ich mich auf eine Bank und bemerke, wie sich die Wand hinter mir bewegt. Aber aus den Boxen kommt kein Klirren, kein Brummen — der Sound ist wuchtig und glasklar zugleich. »Bei Bassmusik-Genres wie z.B. Dubstep sind tiefe Frequenzen weit unter 60 Hertz absolut musikalisch relevant«, sagt Mark Ernestus. Das menschliche Gehör kann tiefe Frequenzen bis zu 20 Hertz wahrnehmen. Die Anlage im Open Ground ­bildet jedoch auch Bassfrequenzen ab, die nicht mehr zu hören, aber noch zu spüren sind — und die Schallabsorber an den Wänden zum Vibrieren bringen. »Diese extreme Bass-Energie im Zusammenspiel mit der hochwirksamen Absorption an Decke und Wänden macht diese Erfahrung möglich«, erklärt Ernestus.

Aber so technisch das auch klingen mag, so euphorisch ist es. Ein halbes Jahr später stehe ich im prall gefüllten Open Ground, als der Londoner DJ Joy Orbison hinter den CDJs steht. Bei jedem Subbass wogt ein Welle Gekreische durch die Crowd, die die Hände in die Luft wirft. Die Altersspanne ist breit — von Anfang 20 bis Mitte 50. Auch viele Menschen aus Köln sind hier — Samstagnacht ist die Regionalbahn RB48 der Shuttlebus für ­Dancemusic-Nerds. »In NRW gibt es sicher keine so dichte Clubszene wie in Berlin«, sagt Mark Ernestus. »Man muss hier viele Dinge sehr, sehr richtig machen, damit ein Club hier auch überregionale Strahlkraft hat.« Es ist mein ­vierter Besuch im Open Ground, aber auch das erste Mal, dass ich den Club richtig voll erlebe. »Am Anfang hatten wir Freitag und Samstag geöffnet«, erzählt Markus Riedel. »Aber wir haben uns selbst kannibalisiert. Unser Publikum geht nicht zweimal am Wochenende aus.«

»Das Ausgehverhalten hat sich stark verändert«, sagt auch Anna Harness vom Artheater. »Die Partys dauern nicht mehr bis neun Uhr morgens, sondern die Leute gehen ­gegen fünf oder sechs nach Hause.« Auch würden weniger Alkohol oder andere Substanzen konsumiert: »Es gibt da ein neues Bewusstsein bei den 18- bis 23-Jährigen.«

Es ist eine Aussage, die man jetzt oft hört: Nach der Pandemie hat sich etwas verändert im Nachtleben. Damit ist nicht nur gemeint, dass fast alle Clubs mittlerweile mit Awareness-Konzepten gegen Homophobie, Sexismus und Rassismus in ihren Räumen vorgehen wollen. Sondern eine andere Art des Ausgehens, die nicht mit der ­üblichen Abgrenzung junger Menschen von einer älteren Generation zu tun hat. Vielleicht darf man sich darüber nicht wundern. Das Herantasten an den Dancefloor, der Schritt vom Kopfnicken zum Tanzen, das Abtauchen in die Spannungsbögen der DJ-Sets, die die Geschichte der Nacht schreiben — all das macht Clubbing auch zu einem Körpergefühl, das erlernt werden will.

»Nach der Pandemie sind die Leute in Scharen ins Artheater gekommen und hatten ein starkes Bedürfnis nach einem harten Sound«, erzählt Anna Harness. »Das war ein bisschen Schadensbewältigung.« Aber inszwischen hat sich der Sound wieder ein wenig geändert. Die Melodien sind zurück, dazu ein freundlicher, leicht hippiesker Vibe: Melodic Techno nennt es die Gen Z, die Älteren fühlen sich an Trance-Partys der 1990er erinnert. »Das kam mit den vielen Hiobsbotschaften«, erinnert sich Harness und beschreibt die Stimmung: »Wir haben Angst, wir wollen uns in der Nacht finden und gemeinsam Freude an dem schönen Sound haben.«
Dennoch wunderten sich die Kölner Clubs im ­Frühjahr des vergangenen Jahres, dass die Besucher:­innen ausblieben. »Wir haben uns gefragt, was man ­Neues tun kann und die Teamplayer-Party ins Leben ­gerufen«, ­erzählt Anna Harness. Die Idee: Leute aus dem Team des Artheaters, ihre Freund:innen oder andere Nachwuchs-DJs legen auf den Partys auf, bei einem niedrigen Eintritt von acht Euro. »Das hat super funktioniert«, meint Harness. »Die DJs bringen ihre Freundeskreise mit«. Möglich ist das, weil die Honorare niedrig sind und damit auch der Eintritt. So haben die Gäste mehr Geld für Getränke übrig, die die wichtigste Einnahmequelle für Clubs sind. »Wenn ich einen DJ für 8000 Euro buche, muss ich auch 30 Euro Eintritt nehmen«, erklärt Bernd Rehse. »Das bringt dann einen sehr ungünstigen Dominoeffekt mit sich.« 

Wenn die Künstler:­innen gerne ­kommen und sich frei fühlen, überträgt sich das aufs ­PublikumMark Ernestus, Open Ground

Auch die DJ-Szene ist ein Geschäft. An einem Gig von ­bekannten DJs verdienen Management und Booking-Agenturen anteilig und versuchen oft, für ihre Kund:­innen und damit auch für sich, eine möglichst gute Gage herauszuschlagen, indem sie Clubs gegeneinander ausspielen. Mark Ernestus vom Open Ground spricht sogar von »Booking Wars« und meint: »Wir wollten uns daran von Anfang an nicht beteiligen« Das Open Ground sei von Beginn an als ein künstlerzentrierter Club geplant gewesen. »Wenn die Künstler:innen gerne kommen und sich frei fühlen, überträgt sich das aufs Publikum«, erläutert er. »Wenn man nicht in den Wettbewerb um Höchstgagen für große Namen einsteigen kann oder will, muss man ­etwas anderes bieten können. Es ist Geben und Nehmen.« Für das Open Ground bedeutet dies, dass DJs Dinge ausprobieren können, anstatt nur den Sound zu spielen, mit dem sie assoziiert werden. Und auch für die lokale Szene ist Platz. Die Wuppertaler YaYa Crew ist öfter zu Gast, ­Kölner DJs wie Viola Klein oder Philip Jondo haben dort schon aufgelegt, auch der Düsseldorfer Salon des Amateurs und das ostbelgische Meakusma-Festival haben Abende gestaltet. »Es ist total super zu sehen, wieviele Gleichgesinnte aus der Region da jetzt so zusammenfinden«, sagt Mark Ernestus und gibt zu, dass dies seine Hoffnungen übertroffen habe. »Aber es zeigt auch, dass man viel erreichen kann wenn man erstmal etwas hinstellt und zeigt, wofür man steht.« Und Markus Riedel ­ergänzt: »Es gibt schon ein paar Leute, die wegen uns nach Wuppertal gezogen sind oder hier bleiben.« Und das ist es wohl, was das Großprojekt Open Ground am Wuppertaler Hauptbahnhof und der kleine, gemütliche ­Flachbau neben dem Artheater gemeinsam haben: eine Idee, dass ein Club mehr ist als ein Raum und ein Soundsystem. Sondern eine offene Gemeinschaft, die ­einen für den Rest des Lebens prägen kann.