»Toxic«
In »Toxic« verunstaltet die 13-jährige Kristina mit Filzstift und glimmender Zigarette ein Plakat, das mit dem Foto eines Models für ein Casting in der litauischen Provinz wirbt. Dieser Vandalismus steht in der Tradition von Dada bis Punk, wozu auch andere Elemente einer Ästhetik des Hässlichen passen, die die Regisseurin und Drehbuchautorin Saulė Bliuvaitė in ihrem Spielfilmdebüt souverän handhabt.
Die dünne, elliptische Handlung beginnt, als Marija, die zweite Hauptfigur, gerade ungewollt bei ihrer Großmutter einquartiert worden ist. Weil sie hinkt, wird sie am fremden Ort von Kristina schikaniert, die mit ihrem versoffenen Vater eine verwahrloste Hütte bewohnt. Während sich zwischen den Teenies eine spröde Freundschaft entwickelt, rückt Vytautas Katkus’ agile Handkamera Rost und Dreck, regennassen Asphalt und verwitterte Graffiti ins Bild. Weitwinkelaufnahmen unterstreichen, dass Zeichen von Deindustrialisierung und Verfall bis zum Horizont reichen, der von stillgelegten Hochöfen und Fabrikschornsteinen akzentuiert wird.
Die vermeintliche Anti-Ästhetik gipfelt konsequent in einer Nahaufnahme von Maden im Müll. Doch spätestens die Panoramaaufnahme eines Sonnenaufgangs über einem verschmutzten Stauseeufer stellt klar, dass die 1994 geborene litauische Filmemacherin, dem historischen Beispiel der Romantik folgend, inmitten von Verfall auch Schönheit erkennt. Diese Doppeldeutigkeit entspricht der Widersprüchlichkeit der Protagonistinnen, denn die lassen sich trotz ihrer hemdsärmeligen Renitenz von besagtem Plakat dazu anregen, am (kostspieligen) Casting teilzunehmen.
Wenn Bliuvaitė ihre Hauptdarstellerinnen in der Folge beim Kotzen zeigt, passt das stilistisch zu vorherigen Unappetitlichkeiten, aber ganz realitätsnah ist es von einem offenbar unentrinnbaren bulimischen Schönheitsideal motiviert. Dessen Erfüllung verspricht eine Flucht in die große weite Welt — wobei die knapp rekapitulierte New-York-Erfahrung eines Models bezeichnenderweise nach verbrämter Prostitution klingt. Der Bericht lässt die Milieuschilderung dieses Films, der 2024 das Filmfestival von Locarno gewonnen hat, im Umkehrschluss noch differenzierter wirken. Jedenfalls scheinen Kristina und Marija mit den armseligen Umständen, in denen sie feststecken, immerhin halbwegs zurecht zu kommen.
(Akiplėša) LT 2024, R: Saulė Bliuvaitė, D: Vesta Matulyte, Ieva Rupeikaite, Egle Gabrenaite, 97 Min. Start: 24.4.