Der Zukunft zugewandt: Zhao Tao, Foto: X STREAM PICTURES

»Caught by the Tides«

Jia Zhang-ke erkundet assoziativ den Wandel Chinas im 21. Jahrhundert

2001 in der nordchinesischen ­Minenstadt Datong: Eine Gruppe von Frauen begeht den Weltfrauentag mit dem Singen patriotischer Lieder. In derselben Stadt und im selben Jahr tanzt eine junge Frau mit »Pulp Fiction«-Bob zum quietschigen Euro­dance-Hit »Butterfly« in einem Club. China steht an einem Scheidepunkt, Aufbruch liegt in der Luft. Noch zählen die kulturrevolutionären Lieder zum kollektiven Wissen, doch die westliche Kultur und ein anderer Begriff des Populären haben schon längst größere Bedeutung.

»Caught by the Tides« ist Jia Zhang-kes bisher umfassendster — und experimentellster — Versuch, die epochalen sozioökonomischen Veränderungen, die China in den vergangenen Jahrzehnten geprägt haben, mit den Mitteln des Bewegtbildes festzuhalten. Das Material stammt aus 23 Jahren. Es sind dokumentarische Aufnahmen aus Datong und der Gegend um den Drei-Schluchten-Staudamm, Outtakes aus früheren Filmen sowie neu gedrehte Szenen aus dem Post-Covid-Jahr 2022. Unterschiedliche Bildqualitäten und Formate, Mitgefilmtes und sorgsam Inszeniertes, Kunstloses und Kunstvolles stehen nebeneinander.

Im Zentrum des Films steht Qiaoqiao (verkörpert von Zhao Tao, der langjährigen Stammschauspielerin, Mitstreiterin und Partnerin des Regisseurs), die sich gleichsam wie ein Seismograf durch die sich rasant verändernde Umgebung bewegt — die eindrucksvollen Bilder der Trümmerlandschaften in der Stadt Fengjie am Drei-Schluchten-Staudamm kennt man zum Teil bereits aus »Still Life« (2006) und dem Dokumentarfilm »Dong« (2006). Vor allem im ersten Teil werden die fiktionalen Figuren immer wieder an die Ränder der Erzählung gedrängt von dem dokumentarischen ­Material, das Jia Zhang-ke übergangslos einreiht. Die Montage ergibt so eine mehr spiralförmige als lineare Komposition.

Im zweiten Teil, der zum ­großen Teil aus Material aus der Drehzeit von »Still Life« und »Ash is Purest White« (2018) besteht, begibt sich Qiaoqiao auf die Suche nach ihrem lang verschollenen Geliebten Bin (Li Zhubin), der ihre Heimatstadt auf der Suche nach neuen finanziellen Perspektiven verlassen hat. Archivfilm, women’s picture, Stummfilm, topografische Bestandsaufnahme, ein Umherschweifen im eigenen Werk und Musikfilm: »Caught by the Tides« ist ein faszinierend frei assoziierendes Werk, das kaum auf einen Begriff zu bringen ist

(Feng liu yi dai) R: Jia Zhangke
D: Zhao Tao, Zhubin Li, Jianlin Pan, 111 Min. Start: 15.5.