Oslo Stories: Träume
Ein gelernter Bibliothekar dürfte noch nicht allzu oft den Hauptpreis eines großen Filmfestivals gewonnen haben. Auch Romanautoren finden sich in den Siegerlisten nicht allzu häufig. Beides ist der Norweger Dag Johan Haugerud, der neben vielem anderen auch Filme dreht und in diesem Februar für »Träume« mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet wurde. Zudem ist »Träume« nicht nur ein alleinstehender Film, sondern Teil einer losen Trilogie von Filmen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den vielfältigen Fragen beschäftigen, die in den Titeln der Filme stecken: »Sehnsucht« (Start: 22.5., Kritik S. 77), »Liebe« (bereits gestartet) und eben »Träume«.
Neben dem Inhalt sind die drei Filme durch ihren Schauplatz verbunden, die norwegische Hauptstadt Oslo (deshalb wurden den deutschen Titeln vom Verleih wohl jeweils ein »Oslo Stories:« vorangestellt), ihren Fjorden und vorgelagerten Inseln, dem markanten Rathaus im Herzen der Altstadt, den sehr typisch skandinavisch eingerichteten Wohnungen. Zwar taucht eine Figur in allen drei Filmen auf, man muss aber nicht den einen Film gesehen haben, um den anderen zu verstehen. Auch die Reihenfolge ist beliebig, wobei Haugerud selbst die Abfolge »Sehnsucht«, »Träume« und »Liebe« bevorzugt.
Wie kommt nun ein außerhalb seiner Heimat kaum bekannter Regisseur zu so einem ambitionierten Projekt? Bevor er 2012, mit Ende 40, seinen ersten Spielfilm drehte, hatte Haugerud schon drei Romane veröffentlicht; es wäre also nicht falsch zu sagen, dass er eher von der Literatur kommt als vom Kino. Haugerud hat an der Stockholmer Universität aber auch Film studiert und seine Abschlussarbeit über den französischen Regisseur Eric Rohmer geschrieben, was einiges verrät über seinen filmischen Ansatz.
Alle Filme der Trilogie leben vom Wort, weniger von den Bildern. Über weite Strecken sind Menschen aus der bürgerlichen norwegischen Gesellschaft zu sehen, die reden, oft in langen, starren Einstellungen. Sie reden über ihre Träume und Begierden, über Sex und Liebe, über normative heterosexuelle Vorstellungen und andere, vielleicht progressivere Formen des zwischenmenschlichen Miteinanders.
In Haugeruds Oslo spielt es keine Rolle, wer wen begehrt, kompliziert ist es so oder so
In »Träume« setzt sich die kaum volljährige Johanne in einem Text mit einem ersten Gefühl der Verliebtheit auseinander. Gut 30 Minuten hört man sie zu Beginn des Films ihren Text lesen und sieht dazu Bilder, die ihre Erinnerungen visualisieren. In der Schule hatte sie sich in ihre Lehrerin Johanna verguckt, wurde von der ungefähr 30-Jährigen protegiert und von ihr nach Hause eingeladen. Die eigentlich unverfänglichen Situationen verraten erst als geschriebene Worte gewisse moralische Probleme. So zumindest sieht es Johannes Mutter, als sie den Text der Tochter liest und daraufhin ihre eigene Mutter um Rat fragt. Diese wiederum erkennt das literarische Potenzial der Geschichte und vermittelt Johanne an einen Verlag, was wieder andere Fragen aufwirft: Darf Johanne so einfach ihre Begegnungen mit Johanna zu einem literarischen Werk verarbeiten, das die erlebte Realität in eine literarische Form übersetzt, aber auch verfremdet, vielleicht auch verfälscht?
Kunstvoll konstruiert Haugerud die Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen der Realität und einem literarischen Text, auch wenn dieser autobiographisch ist. Nebenbei streift er Fragen, die im Zuge der #MeToo-Debatte aufkamen, gibt aber keine einfachen Antworten. Wirkt Johanne anfangs bisweilen als das Opfer einer älteren, erfahrenen Lehrerin, die ein allzu nahes Verhältnis zu einer Schutzbefohlenen zugelassen hat, erscheint es im literarischen Produkt, dass die beiden Frauen trotz ihres Altersunterschiedes auf Augenhöhe agiert haben.
Gesellschaftliche Vorurteile und Klischees zu hinterfragen und zu entlarven, erweist sich als eine der größten Stärken der Trilogie. Nach und nach verschiebt Haugerud in »Träume« die Perspektiven, deutet an, wie sich die Moralvorstellungen zwischen den Generationen verändert haben, vor allem aber der Blick auf hetero — und homosexuelle Gefühle. In Haugeruds Oslo spielt es keine Rolle, wer wen begehrt, kompliziert ist es so oder so. Aber wenn man oder frau darüber redet, am besten ausführlich, lassen sich am Ende die meisten Konflikte beilegen.
(Drømmer) NOR 2025, R: Dag Johan Haugerud, D: Ella Øverbye, Ane Dahl Torp, Selome Emnetu, 110 Min. Start: 8.5.
»Oslo-Stories«-Triple-Feature im Rahmen der Kölner Kino Nächte: Fr 23.5., Filmpalette, 18–0.15 Uhr