Ein Kind der 90er Jahre
Katharina Jahnke lacht, steht energisch auf und durchquert mit großen Schritten ihren Atelierraum. In der hinteren Ecke bleibt sie vor einem Regal stehen und zieht einen Karton hervor. Randvoll mit Zeitschriften und Büchern in verschiedenen Zuständen ihrer Auflösung, greift Jahnke nach einem obenauf liegenden schmalen Band und hält ihn triumphierend hoch: »Das ist mein Lieblingsbuch!« — und meint »Jane Fondas Fitness-Buch« von 1983, dessen Innenteil auffällig dünn erscheint. »Es ist schon ziemlich zerfleddert«, gibt sie reumütig zu.
Ein Teil des fehlenden Inhalts taucht überraschend an der gegenüberliegenden Wand auf: Die entnommenen Abbildungen von Jane Fonda im zeitüblichen Sportdress aus Leotard, Stulpen und Schweißband hat Jahnke in eine Buchseite aus einem Architekturführer mit Aufrisszeichnungen von italienischen Renaissance-Kanzeln eingefügt. Trotz ihrer geschickten Einbettung sprengen die Ausschnitte aus dem Aerobic-Klassiker die Narration des plastischen Figurenprogramms. Und schon, mit dem Zusammenprall unterschiedlicher Bildwelten, ist man mittendrin im kreativen Schaffensprozess von Katharina Jahnke.
Die 1968 in Berlin geborene Künstlerin studierte in Offenbach und Düsseldorf, wo sie bis 1997 ein Studium der Bildhauerei absolvierte. Bei einem Aufenthalt in Los Angeles verlagert sich ihre Arbeitsweise von der klassischen Bildhauerei hin zu spontan durchführbaren, improvisierten Techniken und kleineren Formaten. Sie füllte Skizzenbücher mit Notizen und Zeichnungen, legte Mappen an, um ihre Beobachtungen festzuhalten — und wurde mehr und mehr zur Sammlerin von kulturellen Erscheinungsformen. Beeinflusst von Mike Kelley und Raymond Pettibon, greift Jahnke, die sich als »Kind der 90er Jahre« bezeichnet, nach Wissens- und Erkenntnismodellen, aber auch nach Erzeugnissen der Unterhaltungsindustrie in Bild und Text.
Insbesondere die profanen Ausprägungen der Alltagskultur interessieren sie: »Im sogenannten Kitsch oder Trash werden existenzielle Weisheiten und großartige Aussagen transportiert. Auch die identifikationsstiftenden Insignien der Fankultur haben mich fasziniert«, sagt Jahnke. Bis heute schöpft die Künstlerin aus Popsongs, Wissenschaftsberichten, Konstruktionszeichnungen, Modezeitschriften, Plattencovern, Science-Fiction Romanen, Radiobeiträgen, Plakaten, Filmen.
Genauso reichhaltig wie die Vorlagen für Themen und Motive sind die Materialien, in denen ihr Werk konkrete Gestalt annimmt, mannigfaltig: Jahnke bevorzugt es, flexibel zwischen den Medien »zu springen«, wie sie sagt. So bewegt sich ihr Werk zwischen Collage und Zeichnung, architektonischen Modellen und raumgreifenden Installationen mit Textilien sowie skulpturalen Objekten. Überhaupt zeichnet die Kunst von Jahnke eine nahezu akrobatische Gelenkigkeit aus, mit der sie Sujets und Werkstoffe umspannt und kombiniert.
Ihre bildnerische Praxis eröffnet jenen kontingenten Begegnungen einen Raum, die der Dichter Lautréamont einst in seinem berühmten, später von den Surrealisten zum Leitmotiv ihrer Bewegung deklarierten Diktum als das »zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch«, bildwirksam beschrieben hat. In Jahnkes Werk verschmelzen antike Göttinnen mit Penélope Cruz, hier nisten bunte Singvögel im steilen Strebewerk gotischer Kathedralen, während Texte aus Spam-Mails über Feuerwehruniformen laufen.
Jahnke greift nach einem obenauf liegenden schmalen Band und hält ihn triumphierend hoch: »Das ist mein Lieblingsbuch!« — und meint »Jane Fondas Fitness-Buch« von 1983
Einzelne aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöste Formen öffnen sich der Imagination und Assoziation. Ist ihr unterschwelliger emotionaler Gehalt freigelegt, tragen diese isolierten Elemente als lose Zitate lediglich Spuren ihrer Herkunft. Zu diesen Spuren gehört beispielsweise auch die zeitbedingte Vergilbung des Papiers.
Jahnke ist es wichtig, der Authentizität des verwendeten Materials gerecht zu werden, da es »so viel in sich trägt«. Manchmal taucht sie regelrecht in ein Buch ein, um nachzuspüren, »wie das eigene Ich mit dem Inhalt interagiert«. Anklänge vormaliger und neuer Bildideen und Bedeutungen überlagern sich in vielschichtigen Kompositionen. Jahnke, zugleich wissbegierig und postmodern zweifelnd, sucht die Festlegung, in einem eindeutigen Sinngefüge zu umgehen und spricht sich nicht nur für die Offenheit von Bedeutungsebenen und Interpretationsvarianten aus. »Ich finde die Idee spannend, dass etwas im Unklaren bleibt«, so Jahnke, die die Grenze zwischen Nichtwissen und Wissen erkundet und, um keine Irritation verlegen, eine Modellserie »Falsch erinnerte Filmsets« oder eine ganze Ausstellung »Alles über Quantenphysik« betitelt hat.
In thematisch geprägten Werkgruppen, kombiniert sie Materialien zu Arrangements, mit denen sie etwa »Angst und Spuk« oder »Erinnerung und Gedächtnis« umkreist. Ihre multiperspektivische Annäherung an einen Gegenstand vergleicht Jahnke mit dem deduktiven Verfahren von Sherlock Holmes: »Man schiebt die Information hin und her, leitet ab, erstellt Stammbäume und Schemata, um etwas zu begreifen und eine Lösung herbeizuführen.« Die Durchdringung des heterogenen Materials lässt dabei Fragen und Zweifel aufkommen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Informationsgehalte. Ein wie zu einem Traum verdichtetes Geflecht von Bezügen entsteht, in dem die klare Trennung zwischen objektiv verifizierbaren Aussagen und subjektiven Entäußerungen aufgehoben scheint. Mit dieser kalkulierten Unzuverlässigkeit, die jede Deutungshoheit verweigert, bleibt, so Jahnke, »der zentrale Kern unberührt, da die Wahrheit nicht abgebildet werden kann«. Übrig bleiben »viele verschiedene Arten und Weisen, etwas zu schildern, zu beschreiben«.
Jahnkes Verfahren lässt an eine Expedition denken, bei der sie in unbekanntes Terrain eindringt. Passend dazu trägt ihre aktuelle Ausstellung in Düren den Titel »Hic Sunt Leones«. Der lateinische Satz — übersetzt: Hier sind Löwen — bezeichnet auf antiken Landkarten und in mittelalterlichen Schriften die unbekannten Zonen, die jenseits erschlossener und entsprechend kartografisch erfasster Gebiete existieren. Jahnkes Untersuchungsfeld sind die verborgenen Areale unserer Wirklichkeit. Mit ihr verlassen wir sicheren Boden und betreten das Reich schlummernder Potenziale und unerforschter Mächte, die uns vor neue Herausforderungen stellen — und vielleicht verleiht uns ja die Begegnung mit einem Löwen ungeahnte Fähigkeiten?
Katharina Jahnke »Hic sunt leones«, Leopold-Hoesch-Museum Düren, Hoeschplatz 1, Düren, bis 25.5, Di–So 10–17 Uhr, Do 10–19 Uhr