Auf In den Süden!
Viel Leerstand gibt es nicht auf der Rodenkirchener Hauptstraße. Da sind Feinkostgeschäfte, ein »Brotsommelier« sowie Parfümerien, von denen eine per Aushang verkündet: »Die Kosmetikkabine ist geöffnet«. Am Maternusplatz treffen sich am frühen Nachmittag die ersten zum Aperol Spritz, in Eile scheint hier niemand zu sein. Unruhe an der Einkaufsmeile stiftet nur eine große Baustelle: dort, wo in den vergangenen Monaten das Bezirksrathaus abgebrochen wurde, ein brutalistischer Bau, um den mancher Architekturfan trauert. Nun wird er durch ein Gebäude ersetzt, wie es heute sein muss: energieeffizient, viel Glas und »bürgernah«. Lange stritt man, ob man nicht das Rathaus sanieren könne, doch nun ist es fort, der Schutt abtransportiert, und der Ärger im Veedel beschränkt sich auf den Einzelhandel, der Einbußen fürchtet.
Rodenkirchen-City ist so etwas wie die Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks, der von Bayenthal im Norden bis Godorf im Süden reicht und so unterschiedliche Viertel wie Hahnwald und Marienburg mit ihrer Villenarchitektur, aber auch Zollstock mit seinen Arbeitersiedlungen vereinigt. Es ist ein reicher Bezirk, und es heißt, die Menschen trügen hier die Nase höher als im Rest der Stadt.
»Ich empfinde meinen Stadtbezirk als einen sehr schönen und abwechslungsreichen. Ich bin froh, dass ich hier, wo ich aufgewachsen bin, Bezirksbürgermeister sein darf«, sagt Manfred Giesen (Grüne), der auf ein Mineralwasser ins Fährhaus gekommen ist, ein Ausflugslokal, an dessen denkmalgeschütztes Fachwerkhaus man eine eigenwillige Beton-Terrasse angebaut hat. Die Nähe zur Natur und zum Rhein, das ist für Giesen das Schöne im Bezirk. »Hier gibt es ein gutes Miteinander.« Etwa in Weiß, das noch immer einen dörflichen Charakter hat, aber auch in Sürth, wo es sogar noch eine Maikönigin gibt, die beim Maifest gekrönt wird.
Aber natürlich gebe es auch Probleme, sagt Giesen. Großes Thema sei neben der Rathaus-Baustelle der Sommershof, Rodenkirchens 70er-Jahre-Einkaufszentrum direkt an der Hauptstraße. Viele Läden stehen leer, und seit einem Eigentümerwechsel im vergangenen Jahr drohe das Gebäude zu verwahrlosen, klagt Giesen: »Es ist zum Heulen!« Bei einem Ortsbesuch stellt man aber fest: Die Rolltreppen laufen, die Beleuchtung ist intakt, für Besucher aus anderen Stadtteilen keine Selbstverständlichkeit. Das China-Restaurant im 1. Stock ist gut besucht, die meist grauhaarigen Gäste können vom Fenster aus das Treiben auf der Hauptstraße beobachten.
Ihn erreichten viele Wünsche und Beschwerden, sagt Giesen. »Vor allem aus den noch ländlicher geprägten Orten.« Doch auch aus dem Neubaugebiet Sürther Feld, wo viele Familien wohnen. Zwei Baufelder sind noch frei und sollen in den kommenden Jahren bebaut werden — und zwar, das hat die Bezirksvertretung wegen der Wohnungsnot angeregt, etwas dichter als geplant: mehr Geschosswohnungsbau, weniger Einfamilienhäuser. Das erregt nun den Unmut der Nachbarn, die offenbar befürchten, dort könne eine Idylle verloren gehen. Ein wirkliches Problem aber sei der Verkehr, sagt der Bezirksbürgermeister. Das liege auch an den vielen Schulen, die in letzter Zeit rund um die Gesamtschule Rodenkirchen auf dem Sürther Feld entstanden sind. »Da werden uns all die erforderlichen Schulen hingesetzt, aber ohne ein ausreichendes Verkehrskonzept zu planen. Jetzt verstopfen Elterntaxis die Straßen.« Immerhin sei es der Bezirksvertretung und ihm gelungen, mehr Verkehrssicherheit durch neue Zuwegungen für die Schüler zu schaffen. Aber das nächste Bauprojekt steht schon an: Die »Neue Mitte Michaelshoven« mit Wohnungen, Kita, Büros und Nahversorgung.
Anne Meyer
»Die meisten wollen ja, dass hier was los ist«
Wie zwei junge Menschen mehr Abwechslung ins Dorfleben von Weiß bringen wollen
»Wir wohnen im Dorf.« Das Bekenntnis geht David Winkel und Johannes Jendrszcok leicht über die Lippen. Für einen Vorsitzenden und einen Geschäftsführer der »Dorfgemeinschaft Weiß 1962 e.V.« ist das nicht ungewöhnlich — wohl aber, wenn sie gerade mal 20 und 24 Jahre alt sind. Warum tun sie sich das an? »Das war so eine Idee, die freitagabends bei ein, zwei Kaltgetränken entstanden ist«, sagt Winkel. Der damalige Vorstand habe sie unterstützt, der Verein sollte verjüngt werden. Zusammen mit dem erfahrenen Schatzmeister Robert Neuschütz, wollen sie etwas bewegen und dafür sorgen, dass man öfters zusammenkommt. So wie früher, vor mehr als zwei Jahrzehnten, als es hier noch mehr Feste, Kneipen und Restaurants gab, sagen sie beim Dorfrundgang.
Auch Elke Hecker ist gekommen. Die zertifizierte Gästeführerin bietet Führungen in der Kölner Altstadt an, aber auch in Weiß. So vieles gebe es hier zu entdecken, sagt sie. Die Kirche St. Georg ist weithin am Ufer sichtbar. Das Satteldach des 1954 geweihten Backsteinbaus wird, gestützt auf zwei Säulen, über eine Terrasse zum Rhein hin verlängert, darunter ein Außenaltar. Gleich um die Ecke steht das »Kapellchen«, Vorläufer der Kirche, mit Werken von Theo Heiermann und Elmar Hillebrand, Vertretern der Kölner Schule. Beide haben hier gewohnt, ebenso wie der Architekt Gottfried Böhm, dessen Wohnhaus aus den 50er Jahren hier steht.
Aber Weiß, das ist auch viel Natur. Mit seinen knapp 6000 Einwohnern liegt der Ort dort, wo der Rhein einen Knick macht, im Weißer Bogen. Mehr als die Hälfte der gut vier Quadratkilometer sind Felder, Wälder, Auen. Nachbarorte sind Rodenkirchen und Sürth, aber auch Zündorf — bloß liegt dazwischen der Rhein. »Der Rhein ist so eine krasse Barriere«, meint Johannes Jendrszcok. »Das da drüben ist fast wie ein anderes Land. Aber wenn in Zündorf Insel-Fest ist, dann ist Weiß wie ausgestorben, dann sind alle dort.« Das geht dank der Fähre, die hier seit Ende der 80er Jahre wieder verkehrt. Auch unter der Woche sieht man an der Station etliche Menschen, oft Grüppchen von Radlern. »Aber viel Interesse an Weiß haben die meisten nicht, die fahren vorbei.«
Das Dorfleben spielt sich auf der Weißer Hauptstraße und der Straße Auf der Ruhr ab, wo noch die alten zweistöckigen Giebelhäuser aus Fachwerk oder Backstein stehen. In einem wohnt Hannelore Bussard und hat im Parterre ihren Laden, das »Früchte- und Gemüseparadies«. Das Fenster ist mit Tieren aus Porzellan und Stroh dekoriert, drinnen sieht es aus wie vor Jahrzehnten, in Kisten und Körben liegen Kartoffeln, Zwiebeln, Bananen. »Das Anfassen der Ware ist verboten« steht auf einem Schild. Keine Kartenzahlung, geöffnet nur bis 13 Uhr. Bussard winkt ab, wenn man fragt, wie die Geschäfte laufen. Manche kämen einfach, um ein Schwätzchen zu halten und nehmen ein paar Eier mit, erzählt Bussard. Den Hunden gebe sie ein Leckerli, »die kenne ich auch alle.« Es habe sich viel verändert im Dorf, neue Siedlungen am Dorfrand, mehr Menschen, man kennt nicht mehr jeden. »Damals waren hier weniger Menschen, aber mehr Läden. Aber ich bin hier geboren, mich kriegt keiner weg.« Ansonsten ist da noch die Bäckerei Lippe, bekannt für die Croissants, doch der letzte Metzger zog schon vor Jahren nach Rodenkirchen. Und statt der alten Sparkasse gibt es seit neuestem donnerstags einen Bus gegenüber dem Bestatter um etwa Überweisungen zu tätigen. »Da ist dann die ganze Rollator-Bande da«, sagt Hannelore Bussard.
Auch der Sparkassen-Bus geht auf eine Initiative der Dorfgemeinschaft Weiß zurück. David Winkel und Johannes Jendrszcok haben noch vieles vor. Im Jugend- und Kulturzentrum gibt es Sport- und Musikangebote. »Aber ausgehen kann man in Weiß nicht so gut«, sagt Winkel. »Dann muss man in die Südstadt, und zurück dann von Rodenkirchen oder Sürth mit dem Nachtbus, oder zu Fuß über die Felder.«
Zwar gibt es das Pfarrfest, den Karnevalsumzug, das Sommerfest der KG Kapelle Jonge und den Weihnachtsmarkt, aber kaum noch Cafés und Restaurants. Das können Winkel und Jendrszcok nicht ändern, aber sie haben andere Ideen: So wird es das Kartoffelfest im September wieder geben, und der neue Quizabend im Pfarrsaal war schon ein voller Erfolg. Winkel sagt aber auch: »Die meisten wollen ja, dass hier was los ist, aber dann gibt es immer auch welche, die sich beschweren, wenn es an einem Abend mal etwas lauter ist.« Doch die Verbundenheit mit dem Dorf, die sei schon groß. Das bestätigt auch Elke Hecker. Ihre Dorfführungen seien sehr beliebt. »Doch meist stehen hier die alten Weißer, die kommen in Scharen — die neuen interessiert das nicht so, die wollen nur im Grünen wohnen und verbringen ihre Freizeit woanders.«
Aber das kann sich ja noch ändern. David Winkel und Johannes Jendrszcok haben jedenfalls noch einiges vor, sagen sie.
Bernd Wilberg
Die Küche des Südens
Unsere Gastro-Tipps für Rodenkirchen, Weiß und Sürth
Rodenkirchen ist bodenständiger als es das Klischee will, zumindest gastronomisch. Bier statt Schampus, Schnitzel statt Haute Cuisine, sogar Döner-Filialisten haben längst Fuß gefasst. Bier trinkt man am besten im urigen Brauhaus Quetsch (Hauptstr. 7), im Sommer auf der überdachten Terrasse mit Blick auf Rhein und Rodenkirchener Brücke. Weiter die Straße runter ist die Auswahl anspruchsvoller, es gibt ein georgisches Lokal (Badagi, Haupstr. 47) und ein französisches Restaurant mit sehr guter Küche ohne Schnickschnack (Petite Marie, Hauptstr. 61). In Walterscheidt’s Bistro Verde (Maternusstr. 6, Hinterhof) bekommt man eine abwechslungsreiche Saisonküche und ein gutes Glas Wein in gemütlicher Atmosphäre. Wer sich hier an einem Samstagmittag unter die Gäste mischt, lernt Rodenkirchen kennen! Auf dem nahen Marktplatz gibt es unter anderem das beliebte Eiscafé Marco (Maternusplatz 1) und den italienischen Rundumversorger Palladio (Maternusplatz 11), jeweils mit Terrasse. Zum Rhein hin hat das alteingesessene Lokal Treppchen einen urigen Biergarten, umgeben vom Kapellchen St. Maternus, viel Fachwerk und Kopfsteinpflaster. Gegenüber befindet sich das Fährhaus mit umfassender Speisekarte und Rheinblick. Weiter südlich wird es kulinarisch zunächst spröder. In Weiß bekommt man bis mittags aber immerhin leckere Croissants auf die Hand (Bäckerei Lippe, Weißer Hauptstr. 46), Pizza gibt es bei Dall’ Italia (Auf der Ruhr 55). Von den drei Eiscafés zwischen Weiß und Sürth mit dem Namen Marano ist das an der Sürther Haupstr. 188 zu empfehlen. Fine Dining gibt es in Sürth auch, und zwar von Mittwoch bis Sonntag im alten Fachwerkhaus des Falderhofs (Falderstr. 29). Am Marktplatz ein paar Meter weiter befindet sich das schnuckelige Cafe de Joy (Sürther Hauptstr. 57), montags und dienstags ist aber geschlossen. Wer vor allem satt werden will, stattet Theo’s Grill, seit vier Jahrzehnten schon hier am Marktplatz, einen Besuch ab und holt sich Pommes oder Pita auf die Hand.
Zwischen Wasser und Weide
Flusslandschaft mit Freizeitwert: Sportlich unterwegs in Kölns naturgeprägtem Süden
Im Kölner Süden, zwischen Rodenkirchen, Weiß und Sürth, zeigt sich Köln von seiner idyllischen Seite. Die sogenannten »Rheindörfer« sind auch deshalb so beliebt, weil man hier nicht nur den Rhein, sondern auch viel Natur hat. In Rodenkirchen lockt der Forstbotanische Garten mit seinem waldähnlichen Gelände, wo auch mal ein Pfau entlang spaziert, und mit seinem weitläufigen Landschaftspark samt unverstelltem Blick auf den Himmel und nur Bäumen am Horizont. Hier gibt es auch einen großen Spielplatz mit Hügel und exotische Bäume und Sträucher aus aller Welt, trotzdem mangelt es im Sommer an Schattenplätzen. Ganz anders der nahegelegene Finkens Garten: In dem fünf Hektar großen Naturerlebnisgarten an der Friedrich-Ebert-Straße kann man verschiedene Biotoptypen und Themenfelder rund um die Natur mit allen Sinnen entdecken.
Die »Kölsche Riviera« mit ihren Sandbuchten ist sehr beliebt und auch an vielen Wochenenden überlaufen. Weniger Trubel herrscht an den Stränden weiter südlich: Ab dem Campingplatz Berger findet man lauschige Plätze am Ufer, oder auch im Auenwald des Weißer Rheinbogens. Ab Weiß kann man dann mit der Fähre Krokodil an die Groov in Zündorf übersetzen. Schön ist aber auch weiter südlich die Sürther Aue — nach jahrzehntelangem politischem Gerangel ist das ökologisch bedeutsame Gebiet nicht mehr vom Ausbau des Godorfer Hafens bedroht.
Auch sportlich hat der Kölner Süden viel zu bieten, das Sportprogramm spielt sich dabei überwiegend auf dem Rhein oder hoch zu Ross ab. Rund ein halbes Dutzend Reitställe gibt es im Kölner Süden. Direkt am Weißer Rheinbogen liegen zwei Reitanlagen nebeneinander, das Reittherapiezentrum Weißer Bogen bietet Hippo-Therapie, heilpädagogisches Reiten und Reiten als Sport für Menschen mit Behinderung an. Am Reitstall Lorbach gibt es neben Pferdesport auch einen Bauernhof mit Landwirtschaft und Rinderzucht. Neben klassischen Disziplinen wie Springen, Dressur und Voltigieren bietet der Hof zudem einen Pferdepensionsbetrieb und einen Ponyclub für Kinder ab 4 Jahren an. Im Herbst veranstaltet Familie Lorbach den alljährlichen »Almabtrieb« nach bayerischem Vorbild, die »Herbstgaudi« lockt nicht nur die Bewohner der Rheindörfer, sondern längst Leute aus ganz Köln.
Wer lieber auf dem Wasser unterwegs ist, hat ebenfalls zahlreiche Möglichkeiten. Rund um den Campingplatz Berger reihen sich eine Handvoll Kanuclubs aneinander. Besonders beliebt ist die Paddelstrecke von Camping Berger bis zur Fähre in Weiß und wieder zurück, auch einen Ruderclub gibt es in Rodenkirchen. Bei der Fahrradtour entlang des Rheins begegnet man daher hin und wieder nicht nur Pferden, sondern auch Kanus, die zum Rheinufer getragen werden.
Anja Albert, Bernd Wilberg
Vorbildlich inklusiv
In Sürth ist Realität, was andernorts noch Wunschdenken ist: Inklusion von der Kita bis ins Erwachsenenalter
Wer durch Sürth schlendert, dem fallen immer wieder Aushänge an Laternenmasten oder Schaufenstern ins Auge: »Wir suchen eine barrierefreie Wohnung in Sürth!« Auch Familie Bruno hat einen solchen Zettel angebracht. Die fünfköpfige Familie wohnt in Nippes und mag ihr Viertel eigentlich sehr. Doch wegen ihrer fünfjährigen Tochter Paula, die im Rollstuhl sitzt, nicht sprechen und ihre Hände nicht benutzen kann, will die Familie nun nach Sürth ziehen. »Wir möchten ihr Teilhabe ermöglichen«, sagt ihre Mutter, Sabine Bruno.
Denn in Sürth scheint zu gelingen, was andernorts noch Wunschtraum ist: Inklusion wird ganz selbstverständlich gelebt, und zwar von der Kita bis ins Erwachsenenalter. Das hat auch mit dem Verein »miteinander leben« zu tun, der sich für ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Menschen mit und ohne Einschränkung einsetzt. Was heute ein inklusives System aus Kindertagesstätte, Jugendhaus, Wohngemeinschaften und Freizeitangeboten geworden ist, begann 1965 mit einer kleinen Elterninitiative. Der Rodenkirchener Kinderarzt Harald von Zimmermann gründete mit betroffenen Familien den »Verein zur Förderung und Betreuung spastisch gelähmter und körperbehinderter Kinder«. Schon früh stand nicht die Sonderbehandlung, sondern die Integration im Mittelpunkt. 1982 entstand das inklusive Jugendhaus in Sürth, in den 90er Jahren kamen Angebote für Erwachsene dazu, auch die Gründung der Offenen Schule Köln (OSK) in Rodenkirchen geht auf den Verein zurück.
»Viele Familien ziehen gezielt nach Sürth, weil sie wissen: Hier finden ihre Kinder ein durchgängiges inklusives Konzept von der Kita bis zum Erwachsenenalter«, sagt Michaela Moreno y Mesa, Leiterin der Kita »miteinander leben«, der landesweit ersten integrativen Kita. Heute werden in dem Holzneubau am Marktplatz 45 Kinder betreut, davon 19 mit besonderem Förderbedarf, einige auch mit schweren körperlichen oder geistigen Einschränkungen. Inklusion sei in der Kita keine Sonderform, sondern gelebter Alltag: »Hier schiebt ein Zweijähriger ganz selbstverständlich ein älteres Kind im Rolli durch den Flur«, erzählt sie.
Vom Marktplatz bis hinunter zum Rhein erstreckt sich ein Gelände, auf dem man einen Bauspielplatz, eine Werkstatt, ein Medienlabor oder auch einen Hühnerstall findet. All das gehört zum inklusiven Jugendhaus, das pro Woche rund 250 Kinder und Jugendliche besuchen. Etwa ein Drittel von ihnen hat eine Behinderung, viele kommen aus ganz Köln. »Eigentlich traurig«, sagt Jugendhaus-Leiter Thomas Göttker. »Es müsste solche Orte in allen Vierteln geben.« Warum klappt in Sürth, was anderswo nicht so richtig gelingen will? Das liege vor allem an der Haltung, glaubt Göttker. »Es braucht kein Ärzteteam, um mit einem Kind mit Downsyndrom umzugehen. Das ist oft nur eine Ausrede und eine Barrikade im Kopf.« Bei ihnen sei jeder Jugendliche in erster Linie einfach jugendlich, egal ob mit oder ohne Einschränkung: »Wir schauen, wie sie mit ihren Möglichkeiten teilhaben können.« Dazu gehöre auch, dass man sich auch mal nicht mögen dürfe. »Echte Teilhabe heißt auch, ehrlich zu sein, aber nicht verletzend.«
Einer der Höhepunkte ist die inklusive Freitagskneipe für Erwachsene: Ab 19 Uhr wird das Jugendhaus zur offenen Bar, in der Studierende bedienen — es gibt Weißwein, Bier, Cola, Halven Hahn. Ein Stammgast kommt extra aus Hennef, ein anderer ist schon 80 Jahre alt. Bislang haben viele Gäste eine Einschränkung. »Da wünsche ich mir mehr Durchmischung. Aber zum Ausgehen fahren viele Sürther in die Innenstadt, wenn sie mobil sind«, sagt der Leiter. Das soll sich in Zukunft ändern: Gleich neben dem Jugendhaus entsteht derzeit eine neue Begegnungsstätte, für Erwachsene mit und ohne Einschränkungen. Bei Yoga, Lesung oder Kochkurs soll Inklusion auch im Alter gelebt werden.
Und dann ist da noch die EMA-Grundschule, die schon in den 90er Jahren Kinder mit geistiger Behinderung aufnahm, lange, bevor das Thema gesetzlich geregelt wurde. »Wir hatten Glück, dass engagierte Menschen damals eine Vision hatten«, sagt die heutige stellvertretende Schulleiterin Heike Brohsonn. Seit dem Umzug in den barrierefreien Neubau auf dem Sürther Feld können auch Kinder mit mehrfachen Behinderungen am Unterricht teilnehmen. Bis zu fünf der 25 Kinder pro Klasse haben eine Einschränkung, einige benötigen pflegerische Unterstützung. »Wir haben durch unseren Bekanntheitsgrad viele Anfragen und können nur Kinder aus unserem Einzugsgebiet aufnehmen.« Familien würden deshalb gelegentlich gezielt dorthin ziehen, sogar aus Nachbarstädten, berichtet Brohsonn. Familie Bruno ist derweil noch immer auf Wohnungssuche. Auch Paula soll in Sürth zur Schule gehen. »Das wäre so wichtig für sie«, sagt Sabine Bruno.
Anja Albert
Nichts für Weicheier
Versteckt im Sürther Gewerbegebiet liegt ein Ort, den hier niemand erwarten würde: die Wachsfabrik. Wo einst Chemikalien, Schnaps und Wachs produziert wurden, ist ein Kunstzentrum entstanden — mit Ateliers, Tanzstudios, Wohnlofts und Café
Ein letzter weißer Pinselstrich. Die knallpinke Grundierung geht über ins Bläulich-Violette, die Farbverläufe wirken wie gesprayt, dabei sind sie mit dem Pinsel entstanden. Jeannette de Payrebrune kniet vor ihrem Werk, Licht fällt durch die großen Sprossenfenster, Vögel zwitschern. Für einen Zyklus aus 17 großformatigen Werken malt sie auf dicken Leinentüchern. Die Künstlerin arbeitet und wohnt in der Wachsfabrik, einen Kunstzentrum, das versteckt im Sürther Gewerbegebiet zwischen dem Interim der Bezirksvertretung und einem Recyclinghof liegt.
1812 wurde die Wachsfabrik als chemische Fabrik gebaut, ab 1918 wurde Schnaps produziert, später dann Wachs, und während der beiden Weltkriege diente sie als Pulver- und Munitionsfabrik. Seit 1979 leben und arbeiten Künstler in dem efeubewachsenen Backsteingebäude mit dem prägnanten »Sägezahndach«. Sie bauten sich ihre Ateliers und Lofts selbst aus, manche haben eine Deckenhöhe von über fünf Metern. »So wunderschön die Räume sind, das ist nichts für Weicheier«, sagt de Payrebrune. Im Winter herrschten in ihrem Loft im ersten Stock zwölf Grad, im Atelier im Erdgeschoss sechs. »Das muss man wirklich wollen«, sagt sie. »Wir sind halt alle ein bisschen Freaks.«
An diesem Morgen Anfang April ist viel Betrieb. Der nächste Kunstsonntag steht bevor, dann öffnen wie an jedem ersten Sonntag im Monat etwa zehn der 26 Ateliers ihre Türen: »Dann hört man wieder überall die Ausrufe: ›So was in Köln? Das gibt’s doch nur in Berlin!‹«, sagt de Payrebrune. In den Sommermonaten gibt es auch Führungen durch die Ateliers und den Skulpturenpark mit lauschigem Garten. Auf der Wiese und in den Ateliers finden an einigen Freitagen Konzerte oder Lesungen statt.
Ältester Bewohner und Mitgründer des Kunstzentrums ist der 83-jährige Maler und Cartoonist Josta Stappen, der seit 1979 hier lebt. »Wir sind keine Kommune, aber eine gute Gemeinschaft und helfen uns gegenseitig«, so de Payrebrune. Vor fünf Jahren stand das Kunstzentrum kurz vor dem Aus: Der Eigentümer kündigte einem Großteil der Künstler, er wollte das Gelände profitabler nutzen. Doch die Mieter starteten eine Petition, schließlich einigte man sich, und das Kunstzentrum konnte weiterbestehen.
Auch das Tanzzentrum Barnes Crossing befindet sich in der Wachsfabrik, es zählt zu den wichtigsten Produktionsorten der freien Szene in Köln. Seit 2005 betreiben hier sieben Choreografinnen, die alle international vernetzt sind, zwei Tanzstudios: das Spektrum reicht von Mixed-Abled-Tanz über Kindertheater bis zu Tanz an der Schnittstelle zum Theater. Zur Nachwuchsförderung vermieten sie die barrierefreien Räume an Künstler. Ende Mai findet hier bereits zum 17. Mal das internationale Tanzfestival SoloDuo unter der künstlerischen Leitung von Ilona Pászthy und Gerda König , die 2021 das Bundesverdienstkreuz erhielt, statt.
Auf dem verwinkelten Gelände gibt es auch ein Café: Draußen sitzt man unter hohen Bäumen, drinnen auf knarzenden Holzbänken, ein Kamin flackert, es läuft leiser Jazz. Sein Café solle in erster Linie ein Treffpunkt für die Menschen sein, die hier leben und arbeiten, so wie er selbst, sagt der 80-jährige Peter Bahr, genannt Ringo. »Das ist ein bisschen wie ein kleines Dorf. Alle kommen mal vorbei.« Aber natürlich lockt ein solcher Ort auch andere Gäste an. »Anfangs haben mich die Leute überrannt! Plötzlich standen mittags 80 Leute vor der Tür, die essen wollten!« Ringo öffnet seither erst um 14 Uhr, und an den Wochenenden nur noch für Events. »Jetzt habe ich Ruhe vor den Mittagspauslern. Das entspannt mich«, so Ringo.
Ringo findet sich auch im Atelier von Sebastian Probst wieder, als Büste, mit Haaren bis zur Schulter und kurzem Pony. Probst, der bei Baselitz studiert hat, unterrichtet auf dem Gelände der Wachsfabrik Klassen im Bronzeguss, in Bildhauerei und Malerei. Ringos Büste steht direkt neben der von Konrad Adenauer. »Die wichtigsten Kölner eben«, sagt Probst.
Anja Albert
Bauhaus, Landhaus, Taubenhaus
Der Kölner Süden ist reich und manchmal hat er sogar Geschmack. Eine Radtour zu ein paar hübschen Ecken jenseits der Rodenkirchener Brücke
Unsere Tour startet an der Haltestelle »Heinrich-Lübke-Ufer«, und erstmal geht es in Grüne: ein bißchen Grüngürtel, eine kleine Schleife durch den Forstbotanischen Garten und schon ist man im Hahnwald. Fahrrad fahren geht hier besonders gut. Die Straßen sind breit, die Bevölkerungsdichte und das Verkehrsaufkommen gering. An diesem Mittag ist fast nur das Personal unterwegs: Menschen, die Laubbläser betätigen, für Sicherheit sorgen, Klimatechniker, und der Bofrost-Fahrer. So lässt sich entspannt an den Villen vorbeirollen, die im Wesentlichen in zwei Kategorien fallen: Bauhaus-Flachdach-Kopie oder Landhaus — egal, ob im »Südstaaten«- oder Finca-Stil. Da fallen die architektonischen Schätze umso stärker auf, Gerhard Richters Atelier und Wohnhaus am Osterriethweg oder das Haus X1 und die denkmalgeschützten Bungalows der Nachkriegsmoderne am Zehntpfennigshof etwa. Überdimensioniert sind fast alle Gebäude hier, besonders das Anwesen der 4711-Erben, an dem unsere Tour fast 300 Meter lang vorbei führt.
Wir verlassen das Beton gewordene Argument für eine Vermögenssteuer in Richtung Südosten und fahren nach Godorf. Die verschieferte Nachkriegskirche St. Katharina und die Mühle an der KVB-Station sind eine kurze Pause wert, ebenso der Blick vom Mühlenhof auf das umliegende Raffineriegelände. Für eine etwas längere Pause bietet sich das Rheinufer am Schrottplatz an: eine überraschend ruhige Ecke mit hübschem Ausblick ins Rechtsrheinische.
Über den etwas holprigen Radweg geht’s am Ufer in Richtung Sürth. Wie in vielen der suburbanen Kölner Veedel merkt man Sürth direkt am Rhein seine Vergangenheit als Fischerdorf an, während das Hinterland aus Siedlungsbau und Gewerbegebiet besteht. Nach einem kurzen Abstecher zum Falderhof geht es dann auch ins Gewerbegebiet zur Wachsfabrik, einem Refugium für die Kölner Kunstszene (s. S. 26). Direkt gegenüber kann man die schön bemalte Glasfassade der Industriestraße 165 a bewundern. Die Industriestraße fahren wir weiter in Richtung Norden, biegen bei der Reissdorf-Brauerei rechts ab und schalten in einen leichten Gang, um über die Brücke in den Diakoniehof Michaelshoven zu fahren.
Die weitläufige Anlage strahlt eine angenehme Ruhe aus, vielleicht ist es aber auch das Rolltempo gewesen. In der Mitte befindet sich ein kleiner Park mit Pferden für therapeutisches Reiten und die Erzengel-Michael-Kirche. Das minimalistische Holzgebäude mit kleinem Kreuzgang wirkt unauffällig, aber ist in seiner Kompaktheit eine willkommene Abwechslung zum zersiedelten Süden Kölns, der sich zwei Straßenecken weiter zeigt. Hinter der Gesamtschule Rodenkirchen geht es vorbei an Neubaugebieten und Siedlungen aus den 60ern zum Dorfkern und schließlich zu einem Relikt des Kalten Kriegs. Am Rheinufer befindet sich die »NATO-Rampe«, eine Auffahrt für eine Behelfsbrücke, die als Ersatz für im Kriegsfall zerstörte Rheinbrücken dienen sollte. Heute hat man dort einen wunderschönen Ausblick auf die beiden Rheinbögen nördlich und südlich.
Am Rheinufer geht es weiter in Richtung Weiß. Bei der Statue von St. Nepomuk geht es die Treppen hoch für einen kurzen Besuch in der spätgotischen Kapelle St. Georg, die in den 80er Jahren von Künstler:innen der Kölner Schule neu ausgemalt wurde. Weiter geht’s zur Pfarrkirche St. Georg, neben der sich das unscheinbare Wohnhaus von Gottfried Böhm mit einem Taubenhaus aus Beton befindet. Über den Weißer Ortskern geht es ins »Künstler-Viertel«. Hier befinden sich drei Häuser des Architekten Heinz Bienefeld: Haus Pahde, Haus Stupp, Haus Heinze-Manke. Alle sind im typischen Backstein-Stil gehalten, mit verspielten Details wie einem Ausstellungsplatz für Kunstwerke in der Außenfassade.
Weniger verspielt sind die Häuser auf unserer letzten Station: dem Auenviertel in Rodenkirchen. Der Wohnpark samt Pumpstation am südlichen Ende ist ein hübscher Kontrast zur Ansammlung von Einfamilienhäusern mit parkenden SUVs davor. Das Bauhaus-Ensemble am Zusammentreffen von Ufer-, Walther-Rathenau-Straße und Im Park veranschaulicht dann noch einmal den feinen Unterschied zwischen Original und der architektonischen Pastiche, die weite Teile des Viertels kennzeichnen. Wir rollen über das Ufer ins Zentrum von Rodenkirchen, dem 2008 fertiggestellten Maternusplatz, der mit seiner großzügigen Gestaltung etwas Weite in das vollgestellte Ortszentrum bringt und lassen den Nachmittag bei einem Eis ausklingen.
Christian werthschulte