Gespenster der Geschichte: »In die Sonne schauen« von Mascha Schilinski

Düster, hart, sinnlich

Das 78. Filmfestival in Cannes beginnt stark – nicht zuletzt durch einen deutschen Beitrag

Zu Recht wurde Cannes in den letzten zehn Jahren dafür kritisiert, dass hier die immer gleichen Regisseure (fast ausschließlich Männer) den Reigen um die Palmen bestimmt haben. »Auteurs« wie Nanni Moretti, Pedro Almodóvar, Ken Loach, die Gebrüder Dardenne und die etwas jüngeren Franzosen Arnaud Desplechin, Olivier Assayas, Jacques Audiard etwa. Von all diesen Namen sind in diesem Jahr nur die Dardennes im Programm vertreten, und mit fast einem Drittel Regisseurinnen im Wettbewerb entspricht ihre Zahl auch ungefähr ihrem Anteil bei den Einreichungen.

Wenn man nach Belegen dafür sucht, dass ein frischer Wind an der Croisette weht, reicht fast ein Blick auf die deutschen Filme, die es dieses Jahr nach Cannes geschafft haben. Traditionell ignoriert das Festival die deutsche Filmproduktion, wenn es sich nicht gerade um einen Film von Wim Wenders handelt, doch dieses Jahr sind gleich drei deutsche Produktionen im Programm: Der frankophile Christian Petzold hat es mit seinem 11. Kinospielfilm »Miroirs No. 3« endlich nach Cannes geschafft, allerdings »nur« in die Nebensektion »Quinzaine des cinéastes«; Fatih Akin, der 2017 mit »Aus dem Nichts« im Wettbewerb vertreten war und dessen Hauptdarstellerin Diane Kruger eine Palme gewann, musste sich dieses Jahr mit einem Platz in der noch jungen Nebenreihe »Cannes première« begnügen für sein Nordseedrama »Amrum«.

Den prominenten Spot im Wettbewerb – und das gleich als erster »richtiger« Beitrag nach dem außerhalb des Wettbewerb laufenden Eröffnungsfilm »Partir en jour« der Französin Amélie Bonnin – erhielt die Berlinerin Mascha Schilinski. Sie ist Jahrgang 1984 und sagte selbst den meisten deutschen Kritiker*innen bis dahin nichts. Kein Wunder, hatte sie doch außer ein paar Kurzfilmen, ihrem Abschlussfilm »Die Tochter« und drei Folgen »SOKO Köln« noch nicht viel vorzuweisen. Mit »In die Sonne schauen« hat sie sich jetzt mit beeindruckendem Selbstbewusstsein in die erste Riege des Weltfilmschaffens katapultiert.

»In die Sonne schauen« ist ambitioniert in seinem historischen und thematischen Umfang und ungewöhnlich in seiner Form

Ihren zweieinhalbstündigen Film mit wenigen Sätzen zu beschreiben, ist alles andere als einfach, so ambitioniert ist er in seinem historischen und thematischen Umfang und so ungewöhnlich in seiner Form. Von vier Generationen über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren auf einem Vierseitenhof im Nordosten Deutschlands erzählt »In die Sonne schauen«, vor allem von den Frauen und wie sich deren Traumata über die Generationengrenzen fortschreiben. Einzige Konstante ist der Hof, der zu einer Art Spukort wird, in dem sich auch die großen Katastrophen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben zu haben scheinen.

Man kann sicher Parallelen zu Michael Hanekes »Das weiße Band« und auch Edgar Reitz’ »Heimat«-Zyklus ziehen, aber das nimmt Schilinski nichts von ihrer Originalität. Frei springt sie zwischen den Zeitebenen, erzählt eher in Vingnetten als in großen Zusammenhängen, evoziert statt zu erklären, setzt auf poetische Bilder, die im Gedächtnis haften bleiben. Das ist in seiner Dichte auf die Dauer von zweieinhalb Stunden sicher keine leichte Kost und man braucht wahrscheinlich ein zweites Seherlebnis, um viele der Binnenbezüge zu entschlüsseln. aber in einer deutschen Filmlandschaft, die auf der einen Seite bestimmt wird von einem mittleren Fernsehrealismus und auf der anderen Seite von der Austerität der Berliner Schule und ihrer Adepten, bietet Schilinski eine wunderbar sinnlich, idiosynkratische Alternative.

Auf ganz andere Art sinnlich ist Oliver Laxes »Sirat«. In den ersten Einstellungen werden mannshohe Lautsprecherboxen für einen Open-Air-Rave aufgestellt und der Bass beginnt mit harter Technomusik zu wummern. Eine paar Hundert Menschen bewegen sich zur Musik, es sind seltsame Gestalten, die sich da versammelt haben: eher eine Mischung aus Crust Punks und alternden Goa-Ravern, viele sehen aus, als kämen sie direkt vom Set eines »Mad Max«-Films. Dazu passt auch die Umgebung, der Rave findet vor einer majestätischen roten Felsenfront in der marokkanischen Wüste statt.

Unter die Raver mischt sich Luis, der offensichtlich nicht dazugehört. Zusammen mit seinem ungefähr zehnjährigen Sohn ist der Spanier auf der Suche nach seiner Tochter, die vor Monaten verschwunden ist. Er verteilt Handzettel unter den Tanzenden, spricht sie an. Einige meinen, vielleicht sei sie auf einem anderen Rave, weiter im Süden, in Mauretanien. Am nächsten Tag wird das Festival von Soldaten aufgelöst. Ein Krieg ist ausgebrochen. Luis fährt einfach einer Gruppe Ravern hinterher, die sich trotz der Nachrichten vom Krieg Richtung Süden aufmachen. Es beginnt eine existenzialistische Odyssee vor spektakulären Wüstenkulissen, doch der globalen Apokalypse kann man sich letzlich auch hier nicht entziehen.

»In die Sonne schauen« und »Sirat« sind fast todessehnsüchtige Filme, düster, hart, aber zugleich sinnlich, überraschend und atemberaubend in ihrer formalen Entschlossenheit. Damit ist Cannes ein spektakulärer Auftakt geglückt.