Wachstumsschmerzen
Da sage noch jemand, die Menschen würden sich von den Parteien abwenden: Die Kreisverbände von Grünen und Linke erleben einen Zulauf wie lange nicht mehr. 800 Mitglieder hatte die Linke vor einem Jahr — jetzt sind es 3000. Und die Grünen haben sich nach dem Ampel-Aus immerhin mehr als verdoppelt, 4800 Menschen sind jetzt dabei. Das löst in den Parteizentralen Euphorie aus — zunehmend begleitet von Wachstumsschmerzen.
»Jetzt ist der Zeitpunkt, sich einzubringen«, beschreibt Isabel Gerken, Vorstandsmitglied der Linken und Direktkandidatin in Kalk, die Gründe für den Zulauf. Nach den guten Ergebnissen der Bundestagswahl will man den Schwung in Köln nutzen. Ein Umbruch steht der Ratsfraktion ohnehin bevor. Nur eines der bisher sechs Ratsmitglieder tritt zur Wahl am 14. September noch an: Heiner Kockerbeck steht an der Spitze der nach Geschlecht quotierten Ratsliste und ist gleichzeitig OB-Kandudat seiner Partei.
Das Wachstum bietet die Gelegenheit, die Strukturen zu stärken. Erstmals hat die Linke in allen Stadtbezirken außer Rodenkirchen eigenständige Ortsverbände. Selbstbewusst kündigt man an, Wahlkreise gewinnen zu wollen. In Kalk, Chorweiler und Mülheim will die Linke Nichtwähler*innen mobilisieren — und vor allem der AfD mit Präsenz vor Ort etwas entgegensetzen. Eine Aktionswoche soll die neuen Mitglieder direkt
in den Wahlkampf einbinden.
Für den jüngst erst ins Amt gewählten Co-Sprecher Jan Schiffer ist das die richtige Reaktion auf die Vorwürfe von außen, etwa der Ex-Bundestags-Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht, die Linke sei eine Partei für gut situierte, woke Großstadtmilieus geworden.
Von kontroversen Themen wie der Rüstungspolitik kann sich die Linke auf kommunaler Ebene fernhalten. »Die Kommunen müssen besser finanziert werden«, sagte Kockerbeck bei einer Parteiveranstaltung im Mai. Darin sehe er das »zentrale Thema« angesichts der »größten Haushaltskrise seit Jahrzehnten«. Aufgabe der Linken sei es, Solidarität und »Demokratie von unten« zu organisieren. Konkret wird Kockerbeck bei der Wohnungspolitik:In Köln hätten sich die »Marktinteressen durchgesetzt«. Der Glaube aber, dass der Markt es schon richten werde, habe zu hohen Mieten geführt, und das seien »Armutstreiber«. Eine neue kommunale Wohnungsbaugesellschaft solle endlich für bezahlbaren Wohnraum sorgen, mehr soziale Erhaltungssatzungen gegen Gentrifizierung erlassen werden. »In München gibt es 36, in Köln sind es vier«, so Kockerbeck. Auf der Parteiveranstaltung zeigten sich die scheidenden Ratsmitglieder Jörg Detjen, Güldane Tokyürek und Michael Weisenstein zufrieden. Trotz und vielleicht gerade wegen der Abspaltung des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW): Der Generationenwechsel gelingt anscheinend.
Anders als bei den Grünen, wo es zuletzt Querelen gab. Zunächst gelang es nicht, mit dem beliebten Bezirksbürgermeister der Innenstadt, Andreas Hupke — seit 20 Jahren im Amt — eine »Staffelstabübergabe« ohne persönliche Verletzungen zu vollziehen. Hupke warf seiner Partei Altersdiskriminierung vor und will nun mit einer eigenen Wählergruppe zur Wahl für die Bezirksvertretung (BV) Innenstadt antreten. Kurz darauf trat Antje Kosubek, Hupkes Stellvertreterin und Vorsitzende der Grünen in der BV aus der Partei aus. Kosubek sagte, ihr fehle bei den Grünen die Aufmerksamkeit für die »sozialen Themen«. Derweil stellte die Mitgliederversammlung die sogenannte Reserveliste für den Rat auf. Diese Kandidat*innen ziehen in den Rat ein, wenn der Partei mehr Sitze zustehen als durch die Direktkandidat*innen aus gewonnenen Wahlkreisen belegt werden. Die Liste ist weniger wichtig für die Grünen, weil ihre Direktkandidat*innen in vielen Wahlkreisen gute Chancen haben.
Einigkeit besteht bei den Grünen nur darin, dass die Besetzung der Liste nicht gut lief. Uneins ist man sich aber über die Bedeutung der Unstimmigkeiten. Trotzdem war die Verwunderung groß. Zwar stehen auf den vorderen Plätzen die Fraktionsvorsitzende Christiane Martin und Fraktionsgeschäftsführer Lino Hammer. Doch altgediente Mandatsträger wie Bürgermeister Andreas Wolter, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende und KVB-Aufsichtsratsvorsitzende Manfred Richter und Sabine Pakulat, Vorsitzende des Stadtentwicklungsausschuss, landeten abgeschlagen auf hinteren Plätzen.
Bei den Grünen möchte fast niemand mit Namen zitiert werden. Der Wunsch nach einem geschlossenen Erscheinungsbild ist groß
In der Partei wird dies unterschiedlich interpretiert: »abgestraft«, wegen ihres Alters nicht mehr erwünscht, heißt es, ebenso »von den Neumitgliedern ignoriert« wegen Themenschwerpunkten, die »in der Grünen-Blase nicht beliebt« seien, oder »nicht die mitreißendsten Redner. All das sei Ausdruck einer Kluft zwischen jungen und alten Mitgliedern, die sich persönlich nicht austauschen würden, hört man. Manche bezeichnen die Vorgänge sogar als eher zu vernachlässigende Panne, die durch die Aufstellung der Direktkandidatinnen und -kandidaten — mit Ergebnissen von über 90 Prozent — zügig wieder behoben worden sei. Aber fast niemand möchte mit seinem Namen zitiert werden. Der Wunsch nach einem geschlossenen Erscheinungsbild ist groß, obwohl es offene Kritik gibt.
Die Grünen gehen als bislang stärkste Ratsfraktion in den Wahlkampf — mit dem Anspruch, diese Position zu verteidigen. »Deshalb müssen wir auch für jeden Topf einen Deckel haben«, sagt ein erfahrenes Mitglied. Die Kritik an der Auswahl der Kandidaten hat für manche auch eine inhaltliche Bedeutung. Soziale Themen oder auch die Interessen der ganzen Stadt könne die Partei nur dann glaubhaft vertreten, wenn das Personal mit Expertise und guten Verbindungen in möglichst vielen Wahlkreisen, auch rechtsrheinisch, dafür einstehe, so die Argumentation.
In dieser Hinsicht aber sei die Besetzung der Reserveliste »komplett irrational«, so ein Ratsmitglied. Solche Prozesse müssten künftig besser strukturiert werden, sagt ein anderes Ratsmitglied.
Die Kritik richtet sich an mehrere Organe und Personen in der Partei, insbesondere an den Kölner Kreisvorstand, an den Fraktionsvorstand und den Ortsverband Innenstadt/Deutz. Letzterer ist auf mehr als 1000 Mitglieder angewachsen — mehr als die Grünen in vielen anderen Städten insgesamt haben. Ihnen fehle aber der gesamtstädtische Blick, so ein Vorwurf. Auch von »Missmanagement« des Vorstands des Ortsverbands ist die Rede.
An den Kreisvorstand richtet sich zudem der Vorwurf, die Aufstellung der Kandidat*innen nicht besser koordiniert zu haben, was vielleicht auch am Wechsel an der Spitze gelegen habe. Erst im März wählten die Mitglieder Kirsten Jahn zur neuen Co-Vorsitzenden. Sie war von 2014 bis 2019 bereits Fraktionsvorsitzende im Rat — weil sie 2018 an der Stadtwerke-Affäre beteiligt war, als Grüne und CDU aus taktischen Gründen dem SPD-Politiker Martin Börschel einen Posten zuschanzen wollten, stieß Jahns Kandidatur auf offenen Widerstand. Sie setzte sich in der Abstimmung nur durch, weil die Gegner*innen keine Alternative anbieten konnten. Gerade mal 51 Prozent wählten Jahn zur Co-Vorsitzenden.
Jahn und ihrem Vorstand fällt nun jedenfalls die Aufgabe zu, die Kluft zwischen Veteranen und motivierten Neulingen zu überbrücken. Für eine ehrliche Bilanz der vergangenen neun Jahre an der Seite der CDU dürfte wenig Zeit und womöglich auch kaum Interesse übrig bleiben.