Das Wandern der andern
Es mag ein jeder seine Zeit vergeuden, wie es ihm behagt. Bloß, wer hätte gedacht, dass man sich noch mal wie zu Großmutters Zeiten trifft, um zu häkeln, Kerzen zu ziehen oder einen Korb zu flechten? Nun ist’s besser, die Jugend schneidert und weckt ein, anstatt sich digitale Mobbingstrategien anzueignen oder Taylor Swift zu »folgen«. Aber was ist falsch an normalen Hobbys wie Schwimmbad, Lesen, Musikhören?
Ich ahnte aufgrund meiner Recherchen im Milieu der Hobbyisten, dass dieser dunkle Tag kommen würde, doch trifft es einen dann doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wenn Gesine Stabroth anruft und spricht:
Wir gehen am Wochenende wandern, du kommst mit, ne?
Häkeln, Kerzenziehen, Körbeflechten — absurd! Aber: Man kann dabei sitzen und Bier trinken. Bei Wandern ist das ausgeschlossen. Und man muss wissen, dass Gesine Stabroths »Du kommst mit, ne?« nicht als Frage zu verstehen ist. Es ist ein Befehl. Sich zu widersetzen, führt schnurstracks ins gesellschaftliche Abseits. Wenn das Klingelschild im Hausflur dann mit »Stubenhocker« überklebt ist, beginnt erst die lange Kette der Demütigungen. Mir fehlt die Kraft zum Widerstand, ich bin nur noch ein Blatt im Wind.
Aber wie macht man das eigentlich: wandern. Was ist es anderes als immerzu weiter zu gehen? »Die Landschaft genießen« — das sagt sich so leicht. Aber wie »genießt« man Landschaft? Indem man drüberläuft, bis die Füße schmerzen? Und was, frage ich mich, ist eigentlich eine Landschaft? Landschaft kann ja alles sein. Immer ist eine da, sobald man vor die Haustüre tritt. Reiche Menschen haben sogar eine Landschaft in der Wohnung, eine Badlandschaft zum Beispiel. Ob sie da auch wandern? Es gibt zudem die Parteienlandschaft, die Bildungslandschaft, die Behördenlandschaft — aber da will ja nun keiner rumlaufen. Ich war aber mal in einer Saunalandschaft, da darf man immerhin sitzen und nichts tun. Doch ist das Klima dort unangenehm heiß. Das habe ich Gesine Stabroth, die mich dort hingeschleppt hatte, auch ausführlich erklärt, aber dann haben alle gezischelt und »Psst! Psst! Psst!« gemacht. Freie Meinungsäußerung ist in der Saunalandschaft nicht erwünscht!
Im Unterschied zum Spazierengehen muss man beim Wandern sehr klobige Schuhe tragen und einen Rucksack mit sich herumschleppen, damit es garantiert beschwerlich wird. Wandern ist Spazierengehen extrem. In dem Rucksack sind Sachen drin. Der Kartoffelsalat ist das Beste. Aber den darf man erst essen, wenn man vor Erschöpfung taumelt. Und dann schmeckt er aber nicht mehr, alles ist matschig. Ganz zu schweigen von den Käsebrötchen. Die schwitzen noch mehr als man selbst, obwohl sie ja gar nichts tun und getragen werden. Wenn man sich aber weigert, diese verschwitzten Brötchen zu essen, die euphemistisch als »Jause« deklariert werden, obwohl sich deren Käsescheiben schon an den Rändern krümmen vor Sehnsucht nach einem Kühlschrank, dann doziert Gesine Stabroth wieder von Lebensmittelverschwendung, und das kommt einem Schauprozess gleich. Also täuscht man vor, sich die Schnürsenkel binden zu müssen, lässt sich von der Wandergruppe zurückfallen und schmeißt die traurigen Brötchen in irgendeinen Busch oder vergräbt sie. Wenn man wieder aufschließt zur Gruppe, die maschinenhaft weiter zum Horizont trottet, muss man so tun, als kaue man noch, um keinen Verdacht
zu wecken, wenn nachher die Brötchen fehlen.
So eine Wanderung ist also in jeder Hinsicht anstrengend und letztlich nichts anderes als eine umständliche Freizeitzerstörung. Da setze ich mich lieber mit Bier und Pommes in »Stukkis’ Gyros-Tempel«. Dort genieße ich die Imbisslandschaft.