»Alle lieben Touda« von Nabil Ayouch
Kaum dass »Alle lieben Touda« begonnen hat, scheint sich der Film selbst in Frage zu stellen. Noch bevor ein Bild auf der Kinoleinwand erscheint, verkündet eine Texteinblendung: »Alles begann mit einem Schrei. Ein Schrei wurde Gesang.« Doch diesem angedeuteten Schöpfungsmythos der marokkanischen Volksmusik Aïta widerspricht gleich die erste Sequenz, die die genannte Reihenfolge umkehrt: Die Filmhandlung beginnt mit Gesang, der bald darauf in einen verzweifelten Schrei mündet.
Regisseur Nabil Ayouch, der mit seiner Ehefrau Maryam Touzani auch das Drehbuch zu seinem achten Kinospielfilm verfasst hat, führt die Titelfigur bei einem Auftritt zwischen Männern ein, die in sonnenbeschienener Landschaft zu einem kleinen Fest versammelt sind. Schnitte vermitteln, dass allmählich die Dämmerung einbricht und dann finstere Nacht herrscht, während Touda weiterhin Lieder vorträgt — bis sie durch einen Wald rennt, auf der Flucht vor den eigenen Zuhörern, die immer besoffener und zudringlicher geworden sind.
So ist klar, dass der Beruf, den die Protagonistin in einer anonymen marokkanischen Kleinstadt ausübt, mit der Gefahr sexueller Gewalt behaftet ist. Szenen von einer Hochzeitsfeier und einem Volksfest zeigen, dass die sogenannten Sheikhats (oder Cheikhates) für ihre Aïta-Darbietungen belohnt werden, indem ihnen vom Publikum Geldscheine in die Ausschnitte gesteckt werden. Von Barbetreibern werden die Entertainerinnen zudem an den Einnahmen aus dem ausgeschenkten Alkohol beteiligt, zu dessen Konsum sie die (männlichen) Gäste animieren. Deshalb entspricht es ökonomischer Logik, wenn Touda von einer Kollegin barsch aufgefordert wird: »Beweg deinen Arsch!« Jedenfalls muss sie buchstäblich einkalkulieren, in welchem Maß sie das Begrapscht-Werden zulassen mag.
Das widerspricht der Beharrlichkeit, mit der Touda an einer Idealisierung ihres Metiers als traditionsreicher Kunst festhält, sowie zur emanzipatorischen Deutung, die die anfängliche Texteinblendung mit blumigen Sätzen über die ins 19. Jahrhundert reichende Geschichte der Sheikhats vorgenommen hat. Ganz en passant wird auch deutlich gemacht, welchem alternativen Lebensweg die Analphabetin mit ihrem Gesang zu entkommen versucht: Während sie mit einem Bus über Land fährt, huschen am Fenster Bäuerinnen vorbei, die Wasserbehälter und Holzbündel schleppen; die im Heimatdorf grassierende Arbeitslosigkeit hält ihren Bruder indes nicht von moralisierender Verachtung ab.
Es entspricht ökonomischer Logik, wenn Touda von einer Kollegin barsch aufgefordert wird: »Beweg deinen Arsch!«
Dass ihr neunjähriger Sohn als Gehörloser keine Bildungschancen in der Provinz erhält, gibt der alleinerziehenden Touda Anlass, in Casablanca ihr Glück zu suchen. Dort erweist sich die Vorstellung, dass wenigstens die Großstädter Aïta zu schätzen wüssten, als naiv, kaum dass ein Taxifahrer die Adresse eines Cabarets zu hören bekommt. Als Touda bei einem Engagement in einem Nachtclub die Sympathie eines alten Geigers weckt, scheinen im Kontrast mit dessen beruflicher Routine zudem die Grenzen der musikalischen Ausbildung — und des Talents? — auf, die die Sängerin mit einem mitreißenden Temperament zu überspielen pflegt, das Hauptdarstellerin Nisrin Erradi ihr auch überzeugend verleiht.
Dass Ayouch diesen lockeren Plot impressionistisch ausfransen lässt, kann als Ausdruck einer subjektiven Entzauberung verstanden werden: Seine Hauptfigur kann sich nichts mehr vormachen. Das wirft jedoch zugleich die Frage auf, ob der 1969 in Frankreich geborene Filmemacher sich selbst etwas vormachen will. Oder den Zuschauer*innen, die diese europäisch-marokkanische Koproduktion seit der Weltpremiere in Cannes 2024 vor allem in westlichen Arthouse-Kinos gefunden hat — außerhalb von Festivals wurde »Alle lieben Touda« in keinem arabischen Kino gezeigt. Oder ob dieses Publikum sich seinerseits dem Wunschdenken hingeben mag, robuster Selbstbehauptungswille könnte zur Selbstermächtigung ausreichen. Jedenfalls zaubert das ungeschnittene achtminütige Bravourstück, in dem Kamerafrau Virginie Surdej ihre elegante Arbeit mit einer Steadicam traumwandlerisch gipfeln lässt, ein Maximum an schillernder Mehrdeutigkeit herbei.
(Everybody Loves Touda) F/MA/B/DK/NL 2024 R: Nabil Ayouch D: Nisrin Erradi, Joud Chamihy, Jalila Tlemsi, 102 Min. Start: 29.5.