Ein trügerischer Moment der Harmonie: »Un simple accident« von Jafar Panahi

Den Weltgeist eingefangen

Das 78. Filmfestival von Cannes schwankte zwischen Glamour und Endzeitstimmung

Und dann ging plötzlich nichts mehr. Am Morgen des letzten Festivaltages brachen die Projektionen ab und es wurde dunkel und still in den Kinosälen. Ein Stromausfall legte nicht nur Cannes, sondern weite Teile des Départments Alpes-Maritimes lahm. Ursache war Sabotage, wie die Polizei schnell feststellte. Bis dato ist noch nicht klar, wer dahintersteckt und ob die Sabotage dem Festival am Tag der Preisverleihung galt oder es gewissermaßen nur zufällig mitbetroffen war.

Die unterbrochenen Vorführungen und die Preisverleihung fanden letztlich wie geplant statt, der Festivalpalais hat eine unabhängige zweite Stromversorgung. Die Disruption war also gering. Und dennoch fühlte sich diese Episode an, als wolle der Weltgeist die Glamourblase des Festivals daran erinnern, dass da draußen einiges im Argen liegt. Ein bisschen so wie in Oliver Laxes Film »Sirât« (siehe auch hier), in dem eine Gruppe Raver durch die marokkanische Wüste fährt auf der Suche nach der nächsten geilen Party, aber sie am Ende nicht der Tatsache entkommen können, dass im Rest der Welt gerade der Dritte Weltkrieg ausgebrochen ist.

Diese Analogie ist reizvoll, aber auch ein wenig unfair gegenüber dem Festival, das ja immer von der Dialektik lebt zwischen dem, was auf dem roten Teppich passiert, und dem, was auf den Leinwänden zu sehen ist. Und dort war der Weltgeist gerade in den stärksten Filmen präsent wie vielleicht kaum je zuvor, zum einen ganz konkret in Form von Geschichten über die Grausamkeiten real existierender autoritärer Regime, aber auch weniger direkt greifbar durch eine unterliegende Endzeitstimmung.

Da kam die Jury rund um Juliette Binoche nicht dran vorbei. Die Goldene Palme erhielt Jafar Panahis »Un simple accident«, in dem der Iraner die Frage stellt, was wenn sich die Machtverhältnisse umdrehen, wenn Opfer staatlicher Gewalt plötzlich über ihre Peiniger richten können? Solch ein Opfer ist Vahid, der eines Tages durch Zufall seinem Folterer Eghbal wiederbegegnet – oder er glaubt es zumindest, denn gequält wurde er im Gefängnis mit verbundenen Augen. Vahid ist sich aber so gut wie sicher, Eghbal an seinem schlürfenden Gang wiederzuerkennen, der von einer Beinprothese herrührt. Er entführt den Familienvater, um ihn lebendig zu begraben. Doch dann obsiegen in letzter Sekunde die Zweifel, und Vahid macht sich mit dem Entführten in seinem Kleinbus auf eine Odyssee durch Teheran, um andere Opfer Eghbals aufzusuchen, die ihn vielleicht identifizieren können. Aber auch die liefern keine letzte Gewissheit – und sie haben unterschiedliche Auffassungen darüber, was denn die gerechte Strafe für einen Folterer des Regimes ist.

In typischer Panahi-Manier findet er auf dieser Autofahrt immer wieder auch Momente des Humors, die allerdings manchmal forciert wirken in einem Film, der vielleicht sein wütendster ist. Gerade in der zweiten Hälfte wirkt es, als könne »Un simple accident« von Panahis Landsmann Mohammad Rasoulof inszeniert sein, so düster ist er. Rasoulof war letztes Jahr mit »Die Saat des heiligen Feigenbaums« im Wettbewerb von Cannes vertreten und gewann dort einen Spezialpreis. Er war da gerade aus dem Iran vor einer Haftstrafe geflohen, er lebt mittlerweile mit Familie in Deutschland; Panahi, ebenfalls mit Gefängnis- und Reiseverbotserfahrung, war ebenfalls in Cannes anwesend. Er will in sein Heimatland zurückkehren. Dass ihn die Goldene Palme vor einer weiteren Haftstrafe bewahren kann, ist kaum anzunehmen. Zumindest haben ihn die Hauptpreise in Venedig (2000) und Berlin (2015) letztlich auch nicht schützen können.

Einen Innenblick auf autoritäre und totalitäre Herrschaften boten mehrere Wettbewerbsfilmen: In »Zwei Staatsanwälte« des Ukrainers Sergei Loznitsa muss ein idealistischer junger Provinz-Staatsanwalt in der Sowjetunion des Jahres 1937 erkennen, dass sein Vertrauen in die Gewaltenteilung unter Stalin nicht nur naiv ist, sondern lebensgefährlich – ein Film, der ohne Zweifel mit Blick auf die aktuellen russischen Verhältnisse gedreht wurde. In »Eagles of the Republic« von Tarik Saleh ergeht es einem eitlem Schauspielstar ähnlich: Er erfährt schmerzlich, dass all sein Ruhm ihn nicht unverletzlich macht in Zeiten der ägyptischen Militärdiktatur unter Abdel Fatah El-Sisi. Kleber Mendonça Filhos »The Secret Agent« spielt im Jahr 1977 während der brasilianischen Militärdiktatur, »a period of great mischief«, wie am Anfang eine Einblendung erklärt. 

Das Wort »mischief« kann sowohl Unsinn als auch Unheil bedeuten, und so oszilliert dieser erstaunlich spielerische Film auch zwischen Ernst und Komik. Im Mittelpunkt steht Marcelo, der vor seiner Verfolgung nach Recife flieht, wo gerade Karneval gefeiert wird und wo Nachrichten über einen Hai, in dessen Maul ein Menschenbein gefunden wurde, im Jahr von Spielbergs »Der weiße Hai« die Fantasien der Presse und Bevölkerung in groteske Weise befeuern. Mendonça Filho wurde für seinen verwirrend originellen Genremix mit dem Regiepreis ausgezeichnet und Schauspieler Wagner Moura, bekannt für seine Darstellung von Pablo Escobar in der Serie »Narcos«, für seine Darstellung des Protagonisten Marcelo.

Im Kontrast dazu ging der Große Preis, so etwas wie die Silbermedaille des Festivals, an Joachim Trier (»Der schlimmste Mensch der Welt«). Sein Film »Sentimental Value« ist ein sehr persönliches Familiendrama, das wenig zu tun hat mit den großen Themen der Gegenwart. Es erzählt im Kern vom Versuch eines Vaters (Stellan Skarsgård), gegen Ende seines Lebens die Beziehung mit seiner Tochter (Renate Reinsve) zu kitten. Da er Filmemacher ist, wird ein Film zum Vehikel der Entschuldigung. Das Ist tolles Schauspielkino, intelligent, hervorragend gemacht, aber auch ein wenig vorhersehbar und sehr bürgerlich.

Den Preis der Jury, gewissermaßen die Bronzemedaille, teilten sich Mascha Schillinski für »In die Sonne schauen« mit »Sirât«-Regisseur Oliver Laxe. Ein toller Erfolg für die bis dato weitgehend unbekannte deutsche Regisseurin (mehr zu ihr und dem Film hier) die durchaus auch die Goldene Palme verdient gehabt hätte. Hoffentlich wird der Preis und die Cannes-Publicity diesem alles anders als leicht verdaulichen Film helfen, wenn er am 11. September in den deutschen Kinos startet.