Stille ist der Stoff, aus dem die Klänge gewebt sind
Eiko Ishibashi sucht nicht das Rampenlicht — und vielleicht passen gerade deshalb ihre Kompositionen so perfekt zu den melancholisch anmutenden und zugleich tief in die Wunden von Vereinsamung und Zerstörung bohrenden Filmen von Ryûsuke Hamaguchi.
Nach ihrer Zusammenarbeit für den dreifach Oscar-prämierten »Drive My Car« (beste Regie, bestes adaptiertes Drehbuch und bester internationaler Film) vertonte Ishibashi auch Hamaguchis aktuellen Film »Evil Does Not Exist«. Wenn sie nun bereits zum zweiten Mal (nach »The Dreams My Bones Dream«) mit »Antigone«, erschienen auf Drag City, ein Album soziopolitisch auflädt und die Auswirkungen einer Welt mit massiver sozial-ökonomischer, umweltpolitischer und sicherheitspolitischer Schieflage thematisiert, dann will das umso mehr bedeuten.
»Eigentlich wollte ich nur ein Album machen, das als Hintergrundmusik funktioniert«, erzählt sie im Interview mit der Stadtrevue. »Aber als ich die Texte schrieb, musste ich an Menschen denken, die verstorben sind — nahestehende ebenso wie ferne. Ich glaube nicht, dass Musik die Probleme der Welt lösen kann. Aber ich kann die Geschehnisse nicht ignorieren, wenn ich Musik mache.«
Der Titel »Antigone« erschien ihr als perfekte Metapher, um die politischen Konflikte mit ihrem persönlichen Erleben zu verknüpfen. »Es ist das Schicksal der Menschen, in einem täglichen Konflikt zu leben, in einer Realität, in der sich Weltgeschehen und Privates nicht trennen lassen. Wenn es auf dem Album so etwas wie eine Geschichte gibt, dann ist es diese Angst, die sie prägt.«
Die dunklen Motive in ihrer Musik springen einen nicht direkt an, sie sind subtil verwoben in Kompositionen, die zwischen Jazz, Noise, musique concrète und Kammermusik mäandern — alles fundiert im Pop. Der Eindruck, dass man sich geisterhaft zwischen schwer greifbaren Welten bewegt, korrespondiert mit der Präsenz eines mächtigen Magnetfelds in ihrer Musik, dessen Ursprung im Verborgenen liegt. Erst nach mehrmaligem Hören entfaltet sich das bedrohliche Potenzial ihrer Werke — Orte, die man nicht immer freiwillig aufsucht.
Eigentlich sollte unser Interview im April auf dem Big Ears Festival in Knoxville, Tennessee, stattfinden, wo Ishibashi eines ihrer »Gift«-Improvisationssets zu dem eigens dafür gedrehten gleichnamigen Film von Ryûsuke Hamaguchi aufführte. Doch die Hektik vor Ort und die anstehende Veröffentlichung ihres Albums samt Planung der US-Tour ließen uns einen schriftlichen Austausch wählen — eine Form, die dem reflektierten Wesen dieser Musikerin durchaus angemessen ist.
Für »Gift« hat Ryûsuke Hamaguchi nicht einfach nur bestehende Bilder aus seinem letzten Film »Evil Does Not Exist« verwendet, sondern nochmals neue Stummfilm-Sequenzen mit den Schauspieler:innen gedreht — mit dem Effekt, dass einem die Bilder bekannt vorkommen und dann eben doch nicht. Nun siehst du bei den Performances den Film immer wieder. Wie anders fühlt er sich denn jeweils an?
Dieses Projekt begann, als ich zusammen mit Hamaguchi die Beziehung zwischen Film und Musik zu erforschen begann. Zuerst haben wir uns gefragt: Ist Musik wirklich notwendig für einen Film? Ich bin sehr glücklich, dass ich einen Regisseur getroffen habe, mit dem ich diese Frage offen teilen kann. Der Film ist von Azusa Yamazaki so geschnitten worden, dass man nicht mehr weiß, in welcher Dimension man sich befindet. Die Musik wechselt mit ihr. Meine Interpretation und meine Gefühle ändern sich jedes Mal, genau wie die des Publikums. Es ist jedes Mal eine andere Erfahrung, und das genieße ich sehr.
»Gift« und »Evil Does Not Exist« wurden in der Präfektur Yamanashi gedreht, westlich von Tokio gelegen, wo du zusammen mit deinem Partner, dem Musiker und Produzenten Jim O’Rourke lebst. Was hat euch dazu bewogen, auf dem Land zu leben?
Der Zahnarzt in Yamanashi ist auch ein Amateurmusiker. Er hat Jim und mir oft sein Studio zur Verfügung gestellt. Das ist der Grund, warum ich so oft in diese Gegend gekommen bin. Jim und mir gefiel es so gut, dass wir schließlich entschieden, dorthin zu ziehen.
Deine Soundtrackarbeiten sind oft minimalistische Kompositionen, bei denen Stille als Klangelement eine große Rolle spielt. Gibt es eine bestimmte Philosophie, die dich bei der Verwendung von Stille als musikalisches Element leitet?
Ich habe Angst davor, dass Musik die Emotionen des Publikums kontrolliert. Ich glaube, dass Stille wichtiger ist als Musik. Wenn in einer Szene keine Musik gespielt wird, sollten wir genau überlegen, ob sie wirklich notwendig ist, und wenn ja, welche Rolle sie spielen soll. Die Stille gibt schließlich den Rhythmus für den gesamten Film vor.
Dein Vater war ein großer Filmfan, er liebte die Soundtracks von Musikern wie Ennio Morricone. Denkst du, dass dein Weg hin zur Komponistin, Singer-Songwriterin und Multiinstrumentalistin im musikalischen Hintergrund deiner Familie verwurzelt ist?
Niemand in meiner Familie war Musiker. Aber wir sind viel ins Kino gegangen, und ich glaube, das hat mich beeinflusst.
In einem Interview, das du der britischen Tageszeitung Guardian gegeben hast, gibst du sehr offen Einblick in die düstere Weltsicht, die, die dein Leben geprägt hat bevor dein Durchbruch als Musikerin kam. Sind diese Gefühle Vergangenheit, oder vibrieren sie noch immer in dir?
Es ist nicht mehr genau dasselbe, aber die Gefühle, die ich damals hatte, sind nicht verschwunden. Es ist nur so, dass ich jetzt Freund:innen und Kolleg:innen habe, mit denen ich das Leben genießen kann.
Du hast in vielen verschiedenen Jobs gearbeitet — am Empfang einer AOL-Filliale, als Aktmodell für Kunstkurse oder auch in der Altenpflege. Hast du rückblickend das Gefühl, dass diese Jahre dich von der Musik abgehalten haben, oder waren es prägende Erfahrungen, die deine Kunst auch heute noch formen?
Ich weiß es nicht …
Aktuell präsentierst du nicht nur »Gift« live, sondern stellst auch dein neues Album »Antigone« vor. Du hast dafür mit Tatsuhisa Yamamoto, Marty Holoubek, Kalle Moberg, ermhoi, Joe Talia und Jim O’Rourke gearbeitet. Wie hat man sich ihren Einfluss auf den Kompositionsprozess vorzustellen?
Ich habe sie gebeten, mir zuzuhören, wie ich so etwas wie die Grundlagen des Songs spiele — und sie haben dann ihre eigenen Ideen eingebracht. Ich gebe ihnen sozusagen die rhythmischen Akzente vor, aber die feineren Nuancen und Phrasierungen überlasse ich ihnen.
Ich habe Angst davor, dass Musik die Emotionen des Publikums kontrolliert. Ich glaube, dass Stille wichtiger
ist als MusikEiko Ishibashi
»Antigone« ist nicht dein erstes Album mit schweren Themen. Mit »The Dreams My Bones Dream« hast du dich der Geschichte der Mandschurei gewidmet, einem Gebiet, das eng mit der kriegerischen Vergangenheit Japans verbunden ist.
Ich glaube nicht, dass dieses Album in Japan weithin gehört wird. Aber das liegt nicht an politischen Gründen, es liegt einfach daran, dass ich hier nicht berühmt bin.
Aber da diese Geschichte nicht nur eine nationale, sondern auch eine persönliche ist, die mit deinem Vater zusammenhängt, der in der Mandschurei stationiert war: Wie gehst du mit der emotionalen Komplexität um, die sie in deine Kunst einbringt?
Ich nehme mir Zeit bei meinen Recherchen und bei der Suche nach Klängen. Ich warte, bis es in etwas umgewandelt ist, das ich ausdrücken kann.
Dabei hilft es sicherlich, dass du nicht wie jemand wirkst, der sich viel darum kümmert, was andere denken.
Ja! Als ich in der High School war, wurde ich als Einsiedlerin bezeichnet.
Als ich »Evil Does Not Exist« das erste Mal gesehen habe, musste ich heulen — nicht nur wegen der traurigen Geschichte, sondern auch, weil deine Musik etwas so tief Emotionales in mir berührt hat. Was war der letzte Film, der dich so bewegt hat?
»The Beast« (Originaltitel »La Bête«) von Bertrand Bonello. Ich finde, es ist eine wunderschöne Verbildlichung dessen, was für ein Biest aus einer sehr kleinen Angst erwachsen kann.