La Paloma in Stommeln
Ein unscheinbarer Innenhof im Pulheimer Stadtteil Stommeln. Umgeben von Klinkerwänden stehen an die 100 Besucher*innen dicht an dicht und schauen mit spürbarer Begeisterung in eine Ecke des prall gefüllten Geländes. Die beiden Taubenzüchter Orçun Yayla und Manfred Schlotmann lassen ihre zwei Zöglinge der Art Columba livia domestica fliegen. Die eine, Atabey, zieht steil nach links weg, die andere, Altes Mädchen, macht eine 180 Grad Kurve nach rechts. Bei ihrem Flug in den heimischen Schlag werden die beiden Tauben zu Künstlern, denn ein angeschnalltes GPS-Gerät zeichnet das Flugverhalten, Höhe und Geschwindigkeit sowie die zurückgelegte Strecke auf. Das dreikurvige Diagramm, das so entsteht, wird in einem nächsten Schritt Sänger*innen zur Verfügung gestellt, die sich aus dieser Form der Notation ihren eigenen Reim machen und zur Aufführung bringen. Nach der Performance wird wieder eine Taube in die Lüfte entlassen — und so geht das weiter.
Olaf Nicolais zehnteilige »audio-visuelle und performative Intervention« heißt »Ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungelesener Brief«. Der Titel fußt auf einem Zitat aus dem babylonischen Talmud und beschäftigt sich, nicht untypisch für Nicolais konzeptuelle Praxis, mit Fragen von Dialog, Kommunikation, (Be-)Deutung von Zeichen und Kontingenzen. Vom 1962 geborenen Künstler, der in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz aufgewachsen ist, stammt in diesem Fall allein die »Betriebsanleitung« für diesen Zirkel aus Bewegungen, Interpretationen und gesanglichen Ausdruck. Den Rest realisieren die tierischen und die menschlichen Akteure — und werden Teil des Konzepts und der Überlegungen zum Verhältnis zwischen Brief und Traum.
Von Nicolai stammt allein die ›Betriebsanleitung‹ für diesen Zirkel aus Bewegungen. Alles andere realisieren die tierischen und die menschlichen Akteure
Da suchen nämlich die Tauben ihren Weg, hinterlassen dabei Spuren; die Route, die sie einschlagen, ist nicht geradlinig, sondern von Abschweifungen gekennzeichnet. Ganz ähnlich verwinkelt und indirekt werden Tagesreste, sodann aber auch Wünsche, Begehren, Fantasien, Hoffnungen, Unerfülltes und Befürchtetes Inhalt unserer Träume — verdreht in Loopings, in Phrasen und Andeutungen. Die Interpretation der Träume obliegt im nächsten Schritt uns selbst, womöglich im Rahmen einer freudschen Psychoanalyse — so wie die GPS-Daten der Tauben durch die Sänger*innen gedeutet werden. Man möchte weiter spekulieren, ob und welche großen Ideen und Thesen der geisteswissenschaftlichen Kulturgeschichte hier noch eine Rolle gespielt haben. Nicolai selbst bringt Walter Benjamin ins Spiel, hält sich an dessen Sätze zum Erinnern fest — und sieht in der Form der einmaligen Aufführung je eines GPS-Datensatzes eine Möglichkeit, Erinnern anzuregen und zu erzeugen.
Womit wir beim Schauplatz von »Ein ungedeuteter Traum …« wären, denn dieser ist ein geschichtsträchtiger Ort: Olaf Nicolais Arbeit wurde für die alte Synagoge in Stommeln entworfen. Es ist das einzige jüdische Gotteshaus im Rhein-Erft-Kreis, das die Zerstörungen der Nationalsozialisten überstanden hat. Dafür musste es sich verkleiden: Die 1881 gebaute Synagoge wurde 1937 von der Gemeinde an einen Landwirt verkauft, der vorne prangende Davidstern mit Mörtel überdeckt; aus dem Ort des Gottesdienstes wurde ein Lagerraum. Nach einem (Rück-)Kauf der Gemeinde Stommeln 1979 wurde die Synagoge renoviert, dann für kulturelle Veranstaltungen geöffnet, bis 1991 der Kulturdezernent Gerhard Dornseifer das Ausstellungsprojekt »Synagoge Stommeln« ins Leben rief.
Seitdem wird der gerade mal 43 Quadratmeter messende Raum einmal im Jahr der Kunst geöffnet. Die lange Liste der Künstler*innen, die in den 34 Jahren an diesem einen Ort, in dem einen Raum genau eine Arbeit (so das Motto des Kunstprojekts) realisiert haben, ist beeindruckend und voller Renommee: Den Auftakt machte der griechische Arte-Povera-Künstler Jannis Kounellis. Auf ihn folgten unter anderem Rebecca Horn, Richard Serra, Rosemarie Trockel — und zuletzt, 2019, der chilenische Installationskünstler Alfredo Jaar. Das internationale Ansehen bei Publikum und Künstler*innenschaft war enorm. Was folgte war die Corona-bedingte Zwangspause, weswegen Olaf Nicolais Performance-Zyklus das erste Lebenszeichen nach über vier Jahren ist. Nein, nicht das erste: Immerhin hatte die Stadt Pulheim zum 30. Jubiläum einen beachtlichen Reader zur Ausstellungsreihe veröffentlicht, der gebündelt und in aller Würde die ausgesuchten und eindrücklichen Begegnungen mit Ort, Raum und Geschichte in Szene setzt und dokumentiert.
Die lange Pause hat unterdessen anderswo Spuren hinterlassen, denn die »Synagoge Stommeln« wird dieses Jahr zum letzten Mal in gewohnter Art die Tore öffnen. Der Bürgermeister der Stadt Pulheim, Frank Keppeler, verabschiedete bei der Eröffnung von »Ein ungedeuteter Traum …« Angelika Schallenberg, die als Leiterin der Kulturabteilung die Synagoge über Jahrzehnte begleitet hat, aus dem Projekt. Ein neues Team, um die bereits als Förderin involvierte Initiative für zeitgenössische Kunst und Musik, soll — Beschluss politischer Gremien vorausgesetzt — die Zügel in die Hand nehmen. Zum neuen Kuratorium, wie man es wohl nennen kann, gehört auch der im Rheinland ansässige Mischa Kuball. Kuball hat 1994 selbst eine Arbeit in der Synagoge realisiert: Scheinwerfer haben damals die Synagoge von innen heraus strahlen lassen, durch die Bogenfenster drangen Tausende Lumen Licht in die Nacht und die Nachbarschaft. Seitdem, so vernahm man bei der Eröffnung, ist Kuball ein Begleiter des Projektes geblieben. Irritierend waren allemal die kursorisch skizzierten Pläne, den Veranstaltungskalender der Synagoge zu füllen, das Programm auszuweiten. Es hieß da, die Synagoge solle von »einem Diskurs- und Vortragsprogramm begleitet werden, sowie von einer Reihe kleinerer Performances und Interventionen«. Das sollte die Kultur- und Stadtgesellschaften in Pulheim, aber auch in Köln in Habachtstellung bringen, denn es deutet sich ein Wandel an.
Das Besondere der Synagoge Stommeln war, dass sie eben nicht Teil der ständigen Eventisierung von Kunst-, aber auch von Gedenkveranstaltungen wurde. Stattdessen ging es in Stommeln immer etwas vorsichtiger und langsamer zu. Was dem Ort sehr angemessen schien, denn noch immer ist die Synagoge ein Anlass zum Innehalten und Gedenken. Das fällt ohnehin nicht leicht und in einer Welt voller Events noch viel weniger. Schon Walter Benjamin, womit wir bei einem der Stichwortgeber für Olaf Nicolais aktuelle Arbeit sind, schrieb, dass das Gedächtnis der Namenlosen wie der Berühmten zu ehren, zweifellos ein Erkämpfen in der Gegenwart sei. In der Synagoge Stommeln war dieses Erkämpfen nie eines mit Kampfgeschrei, sondern eine innere Anstrengung. So sollte es bleiben.