Von der Kirche zur Kunst
Erdbeeren und Croissants gibt es an der langen Tafel, an der Kay Voges und sein Team das neue Programm vorstellen. Silbern glänzt das neue Spielzeitbuch, die Abkürzung des schwarzen Logos kann man sich zusammenreimen: »SPL KLN«. Ein echter Kontrast zu den neonfarbigen Großbuchstaben der letzten Jahre.
Allerdings muss der neue Schauspielintendant einiges an Kontinuität hinnehmen. Das Schauspiel wird nach der Katastrophensanierung wohl erst im Juni 2026 in die Innenstadt zurückkehren. Für die kommende Spielzeit wird weiterhin im Carlswerk in Mülheim gespielt. Immerhin gibt es zwei neue Bühnen: Wo nach dem Umzug eigentlich ein Tanzstudio vorgesehen war, entsteht das »Depot 3« mit 120 Sitzplätzen. Zudem soll es Vorstellungen im Kolumba Museum geben, in Sichtweite des Sanierungsfalls. Und doch glaubt man dem neuen Intendanten: »Es wird gut, das glaube ich immer noch.« Groß, schmal und freundlich sitzt Kay Voges da, ganz in schwarz, Vielraucher, mit vorspringenden, wachen Augen, eine britische Rockstar-Tolle hängt ihm über der Stirn. Sogar Karneval traut man ihm zu.
Gerade ist er ins Agnesviertel gezogen, mit Blick auf die Domspitze. »Es fühlt sich an wie nach Hause kommen«, sagt er. Gerade hat er das »Storch« auf der Aachener Straße entdeckt, manchmal trifft man ihn im »Pegel« oder im »Sternhagel«. Köln kennt er, vor Jahren hat er hier in einer Filmproduktionsfirma gearbeitet, am Rhein seine zwei Söhne im Kinderwagen entlang geschoben.
Einst wies in Voges’ Leben nicht so viel darauf hin, dass er zu einem der spannendsten Theatermacher Deutschlands werden würde. Als Kind träumte er davon, Prediger zu sein. Oder sind Theater und Religion am Ende doch eine gute Mischung? Geboren wurde er in Düsseldorf. Seine Eltern, Therapeutin und Programmierer, waren Mitglieder der »Jesus People«, einer charismatischen Gemeinde mit Hippie-Anklängen, Heilungs-, Tauf- und Feuerritualen, Zungensprache und ergriffenen Tänzen. Die Magie seines Kinderglaubens verband sich damals mit Engels- und Teufelswahn der Erwachsenen: »Immer noch eine schöne Erinnerung«, sagt er lächelnd. So inbrünstig war er einst, dass er mit sechzehn Jahren Holzkreuze durch die Altstadt von Amsterdam schleppte, um Menschen auf den Weg zu Gott zu bringen. 1986 trat er freiwillig in die noch radikalere Pfingstgemeinde ein. Dort inszenierte er mit achtzehn Jahren einen Bruch, der einer Theaterbühne würdig gewesen wäre. Bei einer »Jesus Birthday Party« zitierte er aus der Offenbarung: »Ihr seid nicht heiß, ihr seid nicht kalt, ihr seid lau und darum spei ich euch aus«. Als Finale schleuderte er seine Bibel von sich, marschierte hinaus und ward in der Gemeinde nicht mehr gesehen. Ein echter Punk-Move.
Ich brauche nicht die Sicherheit des Glaubens, sondern suche die Sicherheit des Zweifels (Kay Voges)
Voges erzählt diese Geschichte ziemlich gerne. Heute würde er sich am ehesten als »atheistischen Protestanten« bezeichnen. »Ich brauche nicht die Sicherheit des Glaubens, sondern suche die Sicherheit des Zweifels. Wenn man das ertragen kann, ist es eine schönere Lebensidee.« Von der Kirche beim Theater gelandet ist er dann »eher aus Versehen«. Zwar spielte er schon in der Missionsgruppe Straßentheater, doch nach dem Bibelwurf lebte er erst einmal Rockstar- und Filmemacher-Ambitionen aus. Sang in einer Punk-Band, schrieb, malte, hatte Ausstellungen als Fotograf. Und bekam mit 20 Jahren einen Sohn. »Bei mir ging schon immer alles etwas schneller als bei anderen.« Auch Kurzfilme drehte er. Leider waren seine Schauspieler nicht ganz so gut wie in den Filmen, die er liebte. Voges rief am Theater Krefeld an: »Ich will so gut werden wie Ingmar Bergmann. Kann ich das bei euch lernen?«
Er durfte hospitieren und kochte sechs Monate lang Kaffee. Dann wurde er dem Theater Oberhausen als Regieassistent empfohlen. Bald leitete er die Studiobühne. »Es kam mir auf einmal vor, als könnte ich als Regisseur alle Künste zusammenfügen, ohne sie perfekt zu beherrschen«, sagt er.
Zehn Jahre lang, von 2010 bis 2020, war Kay Voges Intendant am Schauspiel Dortmund, das mit ihm mehrfach Theater des Jahres wurde, große, auch internationale Aufmerksamkeit erhielt — unter anderem wegen seiner digitalen Experimente. Dass er Theater, Religion und das Internet-Zeitalter auf spannende Weise zusammen denkt, hat er 2017 etwa mit seiner gefeierten Inszenierung »Borderline Prozession« bewiesen. Zum Spielzeitstart in Köln soll es mit »Imagine« (Uraufführung am 26.9. im Depot 1) eine Art Fortsetzung geben. Eine weihrauchgeschwängerte Installation, in der sich die Zuschauer in einen quasi-religiösen Rausch hineinsehen konnten, bombardiert mit Zitat- und Musik-Samples: ein grandioser Live-Theaterfilm über den Zustand der Welt und des eigenen zersplitterten Bewusstseins im Internetzeitalter war das.
Trotz des unkonventionellen Quereinstiegs ist aus Voges Familie dann doch eine regelrechte Theaterdynastie geworden: Seine Frau Mona Ulrich ist Kostümbildnerin. Sein jüngerer Sohn interessiert sich für Regie. Der ältere führt bei Voges’ Inszenierungen manchmal die Live-Kamera, und auch Voges’ Bruder Nils ist Theater-Videokünstler. Mit Religion hat es am Ende dann doch wieder zu tun, wenn Voges und sein Team im Kölner Programmheft »96 Thesen zum Theater« präsentieren. Luther, so Voges, hatte immerhin nur 95. »Wir kommen nicht, um liebgehabt zu werden«, steht da, und: »Wir sind nicht die Guten«. Das neue SPL KLN will aber auch antifaschistisch, ein Zufluchtsort, ein Kraftwerk und eine Party, »kein Ort der moralischen Eindeutigkeiten« und, nach Heiner Müller, ein »Stellplatz der Widersprüche« sein. Und ohnehin: »Alles ist Material.«
Das passt gut zum Schwerpunkt der nächsten fünf Jahre: Theater und Journalismus. Voges will das Schauspiel Köln zum »Medienhaus« machen und ein Zeitalter des »faktenbasierten« Theaters einleiten. Dafür will er unter anderem mit der Redaktion des CORRECTIV zusammenarbeiten, sowie mit dem Hausautor Calle Fuhr, der auch einen Podcast produziert. »Im Zeitalter alternativer Fakten ist es an uns Theatermachenden, die Komplexität der Gegenwart erfahrbar zu machen«, so Voges. Ob das indes gelingt mit so einem geringen Frauenanteil im Regieteam? Von 29 Stücken werden gerade mal fünf von Frauen inszeniert. Manch einer nimmt ihm übel, dass er die Bürgerbühnen Import-Export-Kollektiv und das Altenensemble abgeschafft hat, das Stück »Die Lücke« abgesetzt, noch keine Zusammenarbeit mit der Keupstraße nebenan geplant hat. Doch das werde sich ändern, verspricht Voges: »Wir leben Antirassismus.«