Karges Leben: Martina Scrinzi Foto: Piffl Medien

Vermiglio

Behutsam erzählt Maura Delperos vom Leben in den italienischen Alpen am Ende des Zweiten Weltkriegs

Im kargen italienischen Alpendorf Vermiglio scheint alles weit weg zu sein, was sich jenseits der ­Berge abspielt: der Krieg, Städte, der Süden. Der Blick in den Weltatlas ersetzt das Reisen. Und bis Ereignisse die lokale Zeitung ­erreichen und Briefe ihre Empfänger vergehen Tage, manchmal auch Wochen. Es ist ein überschaubarer, von äußeren Einflüssen weitgehend abgeschotteter Raum, beherrscht von kirchlicher und väterlicher Autorität und dem Zyklus der Jahreszeiten.


An einem kalten Wintertag bricht im Haus der Familie Graziedi ein neuer Morgen an. Noch schlummern alle, teilweise zu zweit, zu dritt in ihren schweren Holzbetten. Das Baby erwacht. Im Stall melkt die älteste Tochter die Kuh. Das Ausschenken der Milch inszeniert »Vermiglio« wie einen Abzählreim. Sieben Mal wird eine Tasse von der Mutter befüllt, bis sich alle schweigend um den Tisch versammelt haben. Am Kopfende sitzt der Vater. Als Dorflehrer, der Kinder wie Erwachsene unterrichtet, nimmt er auch ­außerhalb der Familie die Rolle ­eines milden Patriarchen ein.


Die Heimkehr des desertierten Attilo, von seinem Kameraden Pietro auf den Schultern über die Berge getragen, bringt Unruhe in das feste Gefüge. Die beiden Männer wirken wie erloschen, Pietro, der Mann aus dem fernen Sizilien, wird im Heuschober versteckt und wartet dort auf das Ende des Krieges. Nicht jeder im Dorf ist ­damit einverstanden. Schließlich sind die eigenen Söhne noch ­immer im Feld. Doch allmählich verflüchtigt sich der Widerstand und der Fremde, in den sich bald Lucia, die älteste Tochter der ­Familie Graziedi, verliebt, findet Aufnahme in der Gemeinschaft.

So sehr sich das Leben in Vermiglio auch an das Sichtbare und ­Konkrete hält: Jede und jeder hütet Geheimnisse


Behutsam entfaltet die italienische Filmemacherin Maura ­Delperos den Mikrokosmos der dörflichen und familiären Welt im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs. So sehr sich das Leben in Vermiglio auch an das Sichtbare und Konkrete hält: Jede und jeder hütet Geheimnisse. Die Kriegsheimkehrer, die sich über das ­Erlebte in Schweigen hüllen. Der Vater, der in seinem Zimmer zu den Klängen von Chopin einem, dem Blick der Kamera zunächst noch verborgenen Ritual nachgeht. Ada, die mittlere der drei Schwestern, die heimlich masturbiert und sich zur Strafe immer extremere Bußaufgaben ausdenkt — wie das Essen von Hühnerkot. Und Virginia, das rebellische ­Mädchen aus dem Dorf. Sie raucht geklaute Zigaretten und schwärzt sich mit der Asche die Augenlider.


Wie schon in ihrem Debüt »Maternal« (2019) konzentriert sich Delperos Blick auf die weibliche Erfahrungswelt. Um in dieser großen Familie seinen eigenen Wünschen und Sehnsüchten nachzugehen, muss man sich ­verstecken: hinter dem Schrank, unter dem Tisch oder in der Scheune. Die Freiräume sind knapp bemessen, die Plätze ­bereits verteilt. Die hellwache ­Flavia, mit 13 die jüngste unter den Mädchen, bekommt vom ­Vater zusätzlichen Unterricht erteilt. Er entscheidet, dass sie die weiterführende Schule besuchen darf, anders als Ada, der am Ende nur die Flucht ins Kloster bleibt. Der Mutter, von harter Arbeit, zehn Geburten und dem Verlust des jüngsten Kindes ausgezehrt und erschöpft, bleibt dagegen keine Wahl. Kaum ist das neue Baby auf die Welt gebracht, ist sie schon wieder schwanger. Aber auch der älteste Sohn Dino, vom Vater als Nichtsnutz abgewertet, ist von der patriarchalen Ordnung betroffen.


Während das Essen in der ­Familie Graziedi knapp bemessen ist, gönnt sich der Vater eine neue Schallplatte — »Nahrung für die Seele«. Nicht zufällig fällt die Wahl auf Vivaldis »Die vier Jahreszeiten« — auch »Vermiglio« erstreckt sich über den Zeitraum eines Jahres. Der Kameramann Michail Kritschman, bekannt vor allem durch seine Zusammenarbeit mit dem russischen Regisseur Andrej Swjaginzew (»Loveless«), erschafft auch hier eine Welt aus meist statischen Einstellungen und matten Farben. Die imposante Bergkulisse, im Winter von einer dichten Schneedecke überzogen, wirkt zu jeder Jahreszeit einengend, weder evozieren die Bilder das Gefühl von majestätischer Erhabenheit noch von Nestwärme. Auch die Montage verknappt. Delpero ­arbeitet mit Auslassungen, ohne zu verrätseln, nichts wird ausformuliert. Als der Schnee geschmolzen ist, hat auch der Krieg sein Ende gefunden. Ruhe kehrt keine ein in Vermiglio.

I/F/B 2024, R: Maura Delpero, D: ­Tommaso Ragno, Giuseppe De ­Domenico, Roberta Rovelli, 119 Min. Start: 24.7.