Wenn die Echtheit aufhört zu existieren: Amira Ben Saoud

Namenlos dystopisch

Amira Ben Saoud erzählt in ihrem »Schweben« von ­einem weiblichen Iden­ti­tätsverlust durch Arbeit

In einer postapokalyptischen Welt hat sich die Menschheit in Siedlungen zurückgezogen und sich darin in kleinbürgerlichen Verhältnissen eingerichtet. »Es gibt keine Gewalt«, so lautet dabei die tragende Ideologie
»des Systems«, wie die grob ­skizzierte Regierung dieser Siedlung genannt wird.


Die Protagonistin von Amira Ben Saouds Debütroman ­»Schweben« lebt in einer dieser Sied­lungen und berichtet von ­ihrem Berufsalltag. Sie wird von Männern dafür bezahlt, die Rolle ­ehemaliger Partnerinnen, Töchter oder Mütter zu spielen. Dabei nimmt sie so viele Namen an, dass sie sich an ihren echten nicht mehr erinnert — ändert so oft ihr Aussehen, dass ihre Haare vom Färben ausfallen. Im Zentrum steht die Beziehung zu Gil, einem verschlossenen Mann, für den sie nach und nach zu »Emma« wird, die offenbar die Siedlung verlassen hat.


Amira Ben Saoud, die bisher vor allem journalistisch tätig war, schafft durch die sehr kalte, funktionale Sprache ihrer Hauptfigur eine Atmosphäre der Entfremdung. So wird die Protagonistin zur männlichen Projektion Gils: einer eingesperrten Hausfrau. ­Zugleich ist dieser auch immer mehr an einem scheinbar »Echten« hinter der Rolle interessiert, wobei sich gerade dann Gewalt Bahn bricht, wenn das performative Spiel der beiden deutlich ­darauf verweist, dass es dieses Echte nicht gibt. Stattdessen gibt es nur brutale Anpassung.


So gelingt es dem Roman, Misstrauen gegenüber der pro­pagandierten Gewaltlosigkeit »des Systems« zu säen. Die Nicht-­Existenz von Gewalt kann nur da gepredigt werden, wo sie schon alltäglich geworden ist, so wirkt es hier. »Aber ich war ja anpassungsfähig. So sehr, dass bald auch ich schrie«, antwortet darauf die Protagonistin. Das Thema der Entfremdung vom Realen wird im Verlauf der Handlung auch von der Umgebung gespiegelt, wenn Risse auftauchen oder ­Figuren buchstäblich anfangen zu schweben.


Dem Roman gelingt es dabei jedoch nicht, die gelungenen ­Motive konsequent zu entfalten. Er verläuft sich ab einem gewissen Punkt in eine Leere, die weder eine angedeutete Geschichte weiblicher Emanzipation erzählt, noch das gesellschaftskritische Potenzial des dystopischen Schauplatzes wirklich ausspielt. Gerade das letzte Drittel verliert jeglichen Fokus. »Schweben« ist dabei weniger ein aussagekräftiges Symbol als Ausdruck stilistischer und erzählerischer Ratlosigkeit. Aber dennoch lesenswert.

Amira Ben Saoud: »Schweben«, Hanser, 192 Seiten, 23 Euro