Ganz normale Gewalt
»Niemand wusste, warum ich zugestochen hatte, weil ich nichts gesagt hab«, sagt Eva Medina Canada über ihre erste Verhaftung als Jugendliche. »Sie sagten, ich hätte nicht heimlich eine tödliche Waffe bei mir haben dürfen, und Moses Tripp hat ihnen erzählt, wenn er nicht die Hand dazwischengehalten hätte, wär der Stich direkt ins Herz gegangen.« Eva Medina ist die Protagonistin in Gayl Jones’ bereits 1976 in den USA erschienenen und nun von Pieke Biermann neu ins Deutsche übersetzten Romans »Evas Mann«. Nach ihrer Verhaftung sagt sie nicht, dass Moses Tripp sie sexuell belästigt hat, wie es bereits zuvor viele Männer im Leben der Afroamerikanerin getan haben, vom Nachbarsjungen über den Freund ihrer Mutter bis zu Fremden im Bus.
Stattdessen schweigt sie, auch in der Gegenwart: Die Leser:innen lernen Eva Medina einige Jahrzehnte nach diesem Vorfall als Insassin einer Gefängnispsychiatrie kennen, nachdem sie einen Liebhaber mit Rattengift vergiftet und anschließend kastriert hat. Während sie ihrer Umwelt gegenüber schweigt, zieht ihr Leben in einem Gedankenstrom vorbei und stellt sich als eine Reihe von Erniedrigungen und Belästigungen dar. Lange Zeit hat sie diese als normale Facetten im Leben einer afroamerikanischen Frau eingeordnet, bis sie schließlich ihre angestaute Wut an Davis Carter entlädt, der sie zunächst freundlich behandelt, aber schließlich im Hotelzimmer einsperrt.
Gayl Jones legt ihrer Protagonistin eine direkte und derbe Sprache in den Mund, die gleichzeitig aufgeladen ist mit zahlreichen Anspielungen auf die Kulturgeschichte. »Ich bin Medusa, fuhr mir durch den Kopf. Die Männer kucken mich an und kriegen ne Latte. Ich lass ihren Schwanz zu Stein erstarren«, kommentiert sie etwa ihre Wirkung, kurz nachdem sie Davis Carter umgebracht, danach eine Wurst gegessen und schließlich die Polizei gerufen hat. Der Medusa-Mythos zieht sich als roter Faden durch das Buch, der die fragmentierten Erinnerungen von Eva Medina zusammenhält, die sich in ihren grenzüberschreitenden Gedanken ebenso wenig als Identifikationsfigur eignet wie die anderen Personen im Text.
»Evas Mann« ist ein formal wie auch inhaltlich beeindruckendes Buch, das keine Auflösung oder Erlösung bietet, sondern von Gewaltverhältnissen zeugt, die sich in jeder Zeile und jedem Gedanken von Eva Medina Canada spiegeln.
Gayl Jones: »Evas Mann«, Kanon Verlag, 192 Seiten, 22 Euro