Fragmente als Form
»Nichts ist vergessen«, zitiert Marco Dinić in seinem Roman »Buch der Gesichter« den jugoslawischen Autor Danilo Kiš, »nicht die Namen der Schreiber alter Schul- und Lesebücher voller gütiger Ratschläge, lehrreicher Geschichten und biblischer Parabeln.« Kiš hat in »Enzyklopädie der Toten«, aus der das Zitat stammt, ein Archiv beschrieben, das detailliert Auskunft gibt über Menschen, deren Lebensgeschichte nirgendwo sonst dokumentiert ist. Ein ähnliches Archiv legt Marco Dinić mit »Buch der Gesichter« an: eine Geschichte der serbischen Juden, bzw. ihres Verschwindens. »Wie gehe ich als junger Schriftsteller mit der Tatsache der Lager des 20. Jahrhunderts um«, erklärt Dinić in einem Interview die Grundfrage seines Romans. Eine mögliche Antwort hat er mit seinem Roman über das Verschüttete, Abwesende und Vergessene gefunden, der schon in seiner Form die zerbrochene Erfahrung des 20. Jahrhunderts aufnimmt: Erzählt wird ein Tag des Jahres 1942, in acht Kapiteln aus wechselnden Perspektiven.
An einem Sommertag 1942 erklären die Deutschen das besetzte Serbien für »judenfrei« und an diesem Tag läuft Isak Ras als »letzter Jude Belgrads« durch Straßenschluchten, auf der Suche nach Erklärungen für das Verschwinden seiner Mutter zwanzig Jahre zuvor. Gedächtnisfragmente bilden den Ausgangspunkt des Romans, durchzogen von Antisemitismus, den Isak schon früh kennenlernt: »Jeden Dienstag, hager und flau im Gesicht, hetzte ein Priester vor der Jungfrauenkirche gegen Juden und Türken. Die Eisenbahnen fielen von den Brücken, weil Juden die Brunnen vergifteten, und wenn ein Messer in jemandes Rücken steckte, gehörte es dem Juden soundso.«
Man merkt »Buch der Gesichter« an, wie intensiv Marco Dinić sich mit der Frage beschäftigt hat, wie man das Grauen der Shoah in eine literarische Form bringen kann. Ähnlich wie bei Georges Perec oder auch dem zitierten Danilo Kiš sind es die Brüche und die Lücken in der Erinnerung, in denen die Ermordung der Juden Europas ein literarisches Bild finden. So steht die Suche des Protagonisten nach Erklärungen für das spurlose Verschwinden seiner Mutter auch für die Suche des Autoren, Worte zu finden für das Unsagbare. Eben keinen »historischen Roman zu schreiben«, wie er im Interview erklärt, »sondern zu versuchen, eine historische Zeit fernab der ‚großen Geschichte’ erfahrbar zu machen.«
Marco Dinić: »Buch der Gesichter«, Zsolnay, 464 Seiten, 28 Euro
stadtrevue präsentiert
Di 7.10., Buchhandlung Bittner, 19.30 Uhr