Wald der Sünden
»Aber wenn ich spät abends drüben an der Tagebaukante sitze«, sagt Benja, »und unten die Bagger seh mit ihren Blinkelämpchen, dann weiß ich wieder, warum ich das hier mach.«
Durch die löchrige Plane über den Schaumstoffpolstern tropft es nasskalt auf uns herunter, die Juli-Hitze ist abgeklungen. Eine leere Mate-Flasche und ein Weckglas mit getrockneter Minze stehen auf einer Bank an der Feuerstelle, ein Feuerlöscher lehnt an den Paletten, auf denen wir sitzen, Benja barfuß. Was RWE hier mache, »profitgetriebene Scheiße«, sei nicht hinnehmbar. Die Versprechen des Konzerns, »was hier später mal passieren soll, alles Humbug.« Um uns riesige Hainbuchen, Stieleichen, Baumhäuser. Im Regen sind keine anderen Aktivist*innen im lichten Wald zu sehen, und nicht weit hinter den letzten Baumstämmen rotiert vor den blaugrauen Wolken das Schaufelrad von Bagger 290, 95 Meter hoch und 220 Meter lang, ein 240.000er, so viele Kubikmeter Kohle oder Abraum fördert er täglich. Auf der anderen Seite wie Filmkulissen die letzten Häuserwände des Geisterdorfs Manheim und ein weißer Toyota der Sicherheitsfirma Mundt.
»Übrigens, ich weiß nicht, wie häufig ich von Secus gecatcalled wurde, also die pfeifen mir nach aus ihren Pickups.«
Benja heißt eigentlich anders, will in diesem Text nicht mit den Pronomen »er« oder »sie« bezeichnet werden, und trägt Sturmhaube, schwarze Stoffhosen und ein weites schlammfarbenes Kordhemd mit Aufnähern, UP WITH TREES DOWN WITH CAPITALISM, lese ich über dem Schlüsselbein. Dort hinten sei der »Shitpod«, die Toilette, dann deutet Benja zu den übrigen »Strukturen« unter dem Laubdach des »Barrio«, zum »Cocoon«, der »Kanzlei«, dem »Achterdeck«.
»Eigentlich auf allen Strukturen haben wir Eviction-Boxen, mit allem, was mensch braucht bei ner Räumung. Mit Konservendosen, Urinellas, Kartenspielen, Prepperkleber, um sich die Hände kaputtzumachen. Wegen der Fingerabdrücke.« Auf einem Bauernhof befüllen sie manchmal ihre »Wasserkannis«, Strom erzeuge das Solarpanel.
Seit September 2024 besetzen die Aktivist*innen das verbliebene »Sündenwäldchen« südlich des Tagebaus Hambach, weil es gerodet werden soll. Juristisch darf RWE das, am 29. Januar lehnte das Oberverwaltungsgericht Münster einen Eilantrag des BUND NRW ab, der gegen den Hauptbetriebsplan von RWE klagt. Unter Manheim will RWE keine Kohle fördern, sondern Sand und Kies, um die Uferböschungen des künftigen Tagebausees zu befestigen. Noch Ende Januar rückten die Harvester aus, begleitet von schätzungsweise mehr als 500 Sicherheitskräften der Firma Mundt, und planierten den rund sechs Hektar großen Sündenwald bis auf einen kleinen Rest. Dort seien »aufgrund der dortigen Besetzung keine Arbeiten mehr innerhalb der Rodungsperiode möglich« gewesen, so ein RWE-Sprecher auf Anfrage, obwohl der Konzern noch vor dem OVG Münster argumentiert hatte, »ein auch nur vorübergehender Verzicht auf die Rodungsmaßnahmen« bis Ende Februar habe »erhebliche nachteilige Konsequenzen für den Tagebaubetrieb«. Rund drei Wochen vor der Bundestagswahl am 23. Februar sollten wohl keine Bilder von einem Polizeigroßeinsatz und geräumten Baumhäusern entstehen. Benja und die anderen blieben, wie sie auf ihrem öffentlichen Telegram-Channel meldeten, im »Sündi Bleibt Ticker«, wo sie auch um Lebensmittel und Sachspenden für den »Free-Shop« bitten.
Hey, wenn ihr rum kommt, wir bräuchten grad Aufstriche und Hafermilch. Wär super, wenn ihr helfen mögt ;-)
24. Mai
Gestern morgen haben die Secus versucht den Wald zu betreten und dabei Besetzis beleidigt und bedroht. Kommt vorbei!! Fight RWE
23. Juli
Neben der Spülstraße mit Spülbecken, Gaskocher und Bräter klettere ich hinter Benja die Leiter hoch. In dem offenen Baumhaus liegt in einem alten Gartenstuhl »Tintentod« von Cornelia Funke, das Buch, das Benja gerade liest. An der Wand Kletterseile, Karabiner und Seilratschen. Links auf dem »Balkon« sitzen Kim und Erle, der Regen hat aufgehört. Klar könne ich ein paar Fragen stellen, Kim legt den schwarzen Fineliner und den Zeichenblock mit einem »Höhlenirgendwas« zur Seite. Kim ist die einzige Person unter den Aktivist*innen ohne Sturmhaube, das lange dünne Haar offen, braune Bartstoppeln um das Kinn. Erle steigt in eine Hängematte, Benja setzt sich zu Kim und mir. In Norddeutschland studiert Kim, eine »kreative Designrichtung«, die in die Politik eingebracht werden könne.
»Der Grund, warum wir hier sind, das Wissen, der Ort wird verschwinden, ist natürlich deprimierend.«
Der Alltag sei aber »eigentlich entspannt, Brombeeren pflücken, chillen, die Natur genießen, hier und da was bauen oder werkeln.«
Die knarrende, wiegende Hängematte. Aus einem Baumhaus weint eine Geige, während ein weiterer vermummter Aktivist von nebenan die Leiter herunterklettert, am Handgelenk ein Kettchen mit vier Gliedern,
A-C-A-B. Seit neun Tagen war Erle im Sündenwald, müsse auch die Tage schon wieder weg, plane aber wiederzukommen. In einer Stadt nicht weit von hier lebt Erle mit ihren »Mitbewohnis«. Auf ihren Fingernägeln schimmert grüner Nagellack, und die nachdenklichen Gesichtszüge mit den dunklen Brauen bewegen sich im Ausschnitt ihrer Sturmhaube kaum, während Erle erzählt, langsam und bedacht. Sie mache Vollzeit-Aktivismus, keinen anderen Job, sonst sehe sie schon den Burnout kommen, und »die Welt zu einem besseren Ort machen, was allen was bringt, das fühlt sich sinnstiftender an.«
»Und wie finanzierst du dich?«
»Mich finanziert das Jobcenter.«
»Um noch mal die Waldbesetzi-Klischees zu bestätigen«, sagt Benja und prustet los, und Erle lacht mit. Zu den »über 20 Strafanzeigen mit örtlichem und thematischem Bezug zum Sündenwäldchen«, die seit dem 1. Januar bei der Polizei Rhein-Erft-Kreis erstattet worden sind, die meisten wegen Brandstiftungen an Pumpenanlagen und Verteilerkästen von RWE, wollen sie nichts sagen.
Als ich später gerade loslaufe, zurück ins Dorf, bremst auf der Berrendorfer Straße röchelnd neben mir ein Abraum-LKW, der von der Tagebaukante kommt, der Unterarm des Fahrers liegt auf der heruntergefahrenen Scheibe.
»Du gehörst aber nich zu denen, oder?«
Du sagst jetzt nicht Presse, denke ich, was denkt der
über die?
»Und was wäre, wenn?«
»Ihr habt Blut an den Händen«, er wischt die Handinnenflächen gegeneinander, »die ganzen Arbeitsplätze.«
Der Bagger spielt die nRWE Symphonie der Zerstörung.
3. Juni
An der Wand im Meetingraum der NEULAND HAMBACH GmbH, die sich stets in Großbuchstaben schreibt, erstreckt sich der stahlblaue Hambacher See auf einer quadratmetergroßen Karte der Tagebauregion, wie sie 2070 aussehen soll. Boris Linden, 47, steht immer wieder auf und federt in seinem weißen T-Shirt, grauen Jeans und schwarzen Adidas Samba um den Konferenztisch, zeigt mir auf der Karte die Rekultivierungsprojekte der GmbH. Seit September 2020, als die sechs Anrainerkommunen des Tagebaus sie gründeten, um den Transformationsprozess zu steuern, ist Linden Geschäftsführer.
»Wir sind nicht RWE«, betont er, »aber ohne RWE geht es nicht.« Beispielsweise an der geplanten :porta sophia, wo von 2030 bis mindestens 2070 bis zu 18 Kubikmeter Rheinwasser pro Sekunde aus einer Pipeline über Terrassenkaskaden in den Tagebau laufen sollen, da mache »RWE das Technische, und wir inszenieren das.« Inszenieren, denke ich.
»Von den Aktivist*innen im Sündenwald haben Sie gehört?«
»Ich habe davon aus der Presse erfahren, ja, aber eine Kontaktaufnahme gab es nicht.«
»Müssten Sie nicht mit denen sprechen?«
Wieder setzt Linden an, erklärt wie in Ausfallschritten, mit ruhiger Stimme und leichtem rheinischen Akzent, Kontexte seien ihm wichtig. Was die Aktivist*innen sagten, nehme man sehr ernst. Der Bau der 45 Kilometer langen Pipeline zum Rhein, die klimawandelbedingt immer niedrigeren Pegelstände, die Zahlung von Wasserentnahmeentgelten durch RWE, die chemische Belastung dieses Rheinwassers, das in die Grundwasserkörper sickern wird, aus denen sich das Trinkwasser der Region speist, all diese Fragen wolle man beantworten, so Linden, und manche seien noch nicht abschließend beantwortet.
»Aber ich habe großes Vertrauen in die Gutachten. Hier wird nichts leichtfertig entschieden«, und dann konjugiert er die Gutachten durch wie eine Fremdsprache, die er sicher beherrscht, das unabhängige Massebilanzgutachten, das Rheinwasserentnahme-Gutachten des LANUV, des Landesamts für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz, das inzwischen Landesamt für Natur, Umwelt und Klima heißt.
Dort, wo Benja, Kim und Erle in den Baumhäusern sitzen, solle später der Kulturpark Manheim entstehen, erklärt Linden, mit Strand und Anlegerhafen am Seeufer, Freilichttheater oder Seebühne, Übernachtungsmöglichkeiten sowie dem Hambach Loop, einem rund 30 Kilometer langen Rad- und Wanderweg um den See. Auf den Fotosimulationen der GmbH sitzen Menschen mit Kölschstangen an Tischen, unter einem glasblauen Abendhimmel vor der profanierten Manheimer Backsteinkirche St. Albanus und Leonhardus, die erhalten werden soll, im Hintergrund sitzt jemand an einem Flügel. Auf anderen Renderings schweben Heißluftballons über dem spiegelglatten Hambacher See. Bis das Wasser nach 2050 die flachere Manheimer Bucht erreicht, ist eine Zwischennutzung mit Photovoltaikanlagen vorgesehen.
Vorgestern wurde der Sündi von ein sehr schweren Sturm getroffen. Es gibt viel zu reparieren und neu auf zu bauen, wenn wir bereit sein wollen RWE diese Rodungssaison auf die Nerven zu gehen und die Rodung zu verhindern! Wir brauchen dringend Support!
4. Juli
Als er auf der Esperantostraße in der Ferne zum ersten Mal die mickrigen übriggebliebenen Bäume sieht, stoppt Kai.
»Okay, das ist krank.«
Erst zum zweiten Mal seit seinem Auszug ist er wieder hier, und beim letzten Mal hatte da hinten immerhin noch der gesamte Sündenwald gestanden. Wir kennen uns von einer früheren Recherche, inzwischen lebt Kai, 25, in Nörvenich, studiert in Köln Germanistik und Geschichte und hat mit seiner Partnerin einen eigenen Fantasy-Verlag, seine dunkelblonden Haare trägt er in einem langen Zopf. Er glaube »noch nicht so wirklich daran, was die sich da zusammengedacht haben« für die spätere Nutzung von Manheim. Unter der glühenden Nachmittagssonne laufen wir durch den brachliegenden Ort zur Kreuzung von Berrendorfer Straße und Grüner Weg. Schafgarbe und Löwenzahn blühen vor uns auf dem staubigen Grund, auf dem einmal das Haus stand, in dem Kai von seiner Geburt 1999 bis zum Frühjahr 2024 lebte, auf seinem Smartphone hält er mir wie zum Beweis ein Video von seinem Elternhaus hin. An dem Hügel im Sündenwäldchen sei er früher als Junge Schlitten gefahren, erzählt er, als wir wieder zurücklaufen zur Kirche, von den vermeintlichen Sünden der Jugend im Wald weiß er nichts, »aber ich war auch n Stubenhocker, hab nicht viel Blödsinn gemacht.« Vor über zehn Jahren hatte Kai mal Kontakt zu Aktivist*innen des Klimacamps auf einer Manheimer Obstwiese, Benja und die anderen kennt er nicht.
»Und kannst du das verstehen, dass die hier wieder sitzen?«
»Ich kanns irgendwo nachvollziehen, dass man sagt, hey, das ist immer noch wichtig hier. Wovon ich tatsächlich nichts gehalten hab, war diese Hausbesetzerei damals. Aber ich bin auch kein Freund von Großkonzernen.«
In Anbetracht der drohenden Rodungssaison geht der Sündi auf eine kleine Mobitour um euch über die momentane Situation upzudaten, die Pläne für RWE in der Zukunft und warum wir unbedingt den Sündi schützen müssen. Unsere bisherigen Termine sind: 01.09 19:00 Potse Columbiadamm 10, 12101 Berlin, 02.09 19:00 Baiz Schönhauser Allee 26a 10435 Berlin, 03.09 19:00 Vik18 Viktoriastraße 18 52070 Aachen, 06.09 15:00 Anarchistisches Parkfest Blücherpark
Dortmund 26. August
Sein Gefühl war, »dass sie diesmal sehr schnell roden, wenn der Oktober kommt«, sagt Michael Zobel mit tiefer Stimme am Telefon. Der Polizeieinsatz zur Räumung sei eine Sache von einem Tag.
Der 66-jährige Waldpädagoge und Naturführer ist gerade aus dem Urlaub im Kaiserstuhl zurück, im September beginnt seine Saison wieder so richtig, seit vielen Jahren bietet Zobel Führungen auch in den Wäldern südlich des Hambacher Tagebaus an. Das Sündenwäldchen sei ein »ökologischer Trittstein« zur Waldvernetzung, etwa für die Bechsteinfledermaus, die zwischen dem Rest des historischen Hambacher Waldes und dem Bürgewald Steinheide weiter östlich durch den Sündenwald pendelt. Die Neupflanzungen von RWE und der in Jahrzehnten geplante Grünkorridor entlang der Manheimer Bucht seien kein Ersatz für einen 300 Jahre alten Wald, »eine Fledermaus kann nichts anfangen mit neuen Bäumen. Die braucht alte Bäume, wo Blitzschläge drin sind, und so geht es vielen Tieren.«
Vor der Teilrodung Ende Januar führten Michael Zobels Waldspaziergänge regelmäßig zu den Aktivist*innen im Sündenwäldchen. »Und das war auch sehr bewegend«, sagt er, »wir haben dann Kartierungen gemacht und festgestellt, dass in diesem kleinen Wäldchen wirklich fast jeder Baum bewohnte Fledermaushöhlen hatte.« Dass dann bis auf die wenigen besetzten Bäume gerodet wurde, »da bekomme ich als Naturfreund einen Kloß im Hals.«
Am letzten September-Wochenende will er noch einmal einen großen Spaziergang durch Manheim, Richtung Sündenwald, veranstalten. Am 1. Oktober, einem Mittwoch, beginnt die Rodungssaison.