Neugier, Disziplin und Leidenschaft
Es kommt nicht oft vor, dass man einem Künstler wie Tyshawn Sorey begegnet. Der 45-jährige Komponist, Pianist und Schlagzeuger, geboren auf der »falschen Seite der Schienen« in Newark, New Jersey — gegenüber von Manhattan, ist ein wahres Sound-Chamäleon.
Mit seinem Trio (Aaron Diehl oder Cory Smythe am Klavier, Matt Brewer am Bass) kultiviert er einen Klang zwischen eleganten, barjazzigen Momenten und rhythmisch komplexen, kammermusikalischen Improvisationen. Mit dem Percussionisten Adam Rudolph betreibt er texturbasierte Klangforschung, reich an atmosphärischen Farben. Auf dem Big Ears Festival zeigte er eine verspielt-groovige Seite mit King Britt, Merz und Meshell Ndegeocello. Und dann ist da noch »Monochromatic Light (Afterlife)«, sein meditativ-spirituelles Meisterwerk: kompositorisch raffiniert, emotional von großer Sogkraft. Ein Werk, das den Pulitzer Prize verdient hätte — 2024 erhielt er ihn schließlich für »Adagio (For Wadada Leo Smith)«, ein Saxofonkonzert für das Lucerne Festival, aufgeführt vom Atlanta Symphony Orchestra.
Diese Mischung aus Neugier, Disziplin und Leidenschaft prägt seinen Lebenslauf. Aus schwierigen Verhältnissen kommend, gefördert von einem engagierten Musiklehrer, machte Sorey rasch Karriere in der New Yorker Jazzszene — doch reines Konzertleben genügte ihm nicht. Er studierte u.a. bei Anthony Braxton und Jay Hoggard und unterrichtet mittlerweile selbst.
Unser Gespräch sollte ursprünglich Anfang Juli während der Monheim Triennale stattfinden, wo er mit Peter Evans und im Duo mit Darius Jones auftrat. Krankheitsbedingt wurde es bei den legendären Darmstädter Ferienkursen nachgeholt — Sorey ist an wirklich vielen Orten zu Hause.
Tyshawn, du bist nun schon zum zweiten Mal bei den Ferienkursen — diesmal als Performer, Kompositionsdozent und Ensembleleiter. Wie erlebst du die Atmosphäre?
Es ist eine der wichtigsten Institutionen für zeitgenössische Musik, von den späten 1940ern bis heute. Es ist mir eine Ehre, Teil einer so wunderbaren Gruppe von Komponist:innen, Interpret:innen und Studierenden zu sein. Das Klima ist intellektuell äußerst anregend. Die Menschen hier sind offen für neue Konzepte, nicht nur rein musikalische, sondern auch soziomusikalische. Ich finde es wichtig, hier auch Komponist:innen und Interpret:innen of Color zu sehen.
Die Förderung der nächsten Generation scheint dir besonders wichtig. Ist Mentorenschaft für dich gleichwertig zur Arbeit an der Kunst selbst?
Auf jeden Fall. In Amerika verstehen immer mehr Menschen, wie wichtig Inklusion ist und dass man sich künstlerisch wie intellektuell umeinander kümmert. Diese Denkweise ist nicht nur für die Musikwissenschaft entscheidend, sondern auch für unser Verhältnis zur Welt.
Vor einigen Wochen warst du bei der Monheim Triennale die ich —das zur Transparenz — co-kuratiere. Wie hast du das Festival erlebt?
Monheim ähnelt Darmstadt in seiner Vielfalt an Formen und Ideen, auch in der Internationalität. Es gibt transafrikanische Musiker, transafroamerikanische Musiker, transeuropäische Künstler — wenn ich das Wort »trans« in diesem Zusammenhang verwende, meine ich das nicht im geschlechtsspezifischen Sinne, sondern im Sinne von »Überschreiten« —, von Menschen, die aus verschiedenen Kontinenten und Orten kommen. Heute gibt es so viele Jazz-Festivals — in Monheim dagegen spürte man eine Haltung der »Post-Genre-Musik«.
Es geht nicht nur um die Negation von Kategorien, sondern auch um die von Hierarchien. Nicht, dass diese vollständig abgebaut würden — natürlich gibt es großen Respekt für das, was alle Künstler:innen erreicht haben, und einige sind auf ihrem Weg weiter als andere. Aber generell soll ein Raum geschaffen werden, in dem sich alle auf Augenhöhe begegnen können.
Hierarchien sind in diesen Institutionen zwar von Natur aus vorhanden, aber es ist immer gut, sich ihrer bewusst zu sein und dann darüber hinwegzugehen, anstatt sich damit aufzuhalten. Wir versuchen nicht, Menschen von oben herab zu behandeln, insbesondere nicht jüngere Mitarbeiter:innen und Studierende. Ich denke, es ist unsere Aufgabe als Musiker:innen der älteren Generation, sie zu inspirieren und ihnen zu vermitteln, dass sie eine Stimme haben und etwas beitragen können. Sie sind von Natur aus kreativ, und es bleibt nur noch, dies in einer Form zum Ausdruck zu bringen, die dies zulässt.
Jeder Tag, an dem ich etwas lerne, ist ein wirklich guter TagTyshawn Sorey
Du hast — ich konnte mich auch beim Big Ears Festival davon überzeugen — sehr viele musikalisch unterschiedlichste Welten aufmachende Projekte. Was nimmst die künstlerisch von einem Projekt zum nächsten mit?
Ich muss auch an mein Duett mit dem großartigen Perkussionisten Adam Rudolph denken. Wir denken beide kompositorisch und haben eine Art des Zusammenspiels, die in der Tradition der Perkussionsmusik und der Neuen Musik steht. Aber wir versuchen auch, Perkussionsmusik aus allen Bereichen einzubeziehen, nicht nur aus der zeitgenössischen klassischen Musik. Oder nimm das King Britt-Projekt, oder auch mein Trio und sogar Fieldwork — bei all diesen Auftritten kann ich mich total gehen lassen und einfach mein Ding am Schlagzeug machen. Meine Kompositionspraxis und meine Performancepraxis inspirieren sich grundsätzlich gegenseitig auf unterschiedliche Weise. Wenn man kreativ tätig ist, ist man zu hundert Prozent auf das Geschehen auf der Bühne eingestellt. Ist das nicht der Fall, dann macht das, was man tut, keinen Unterschied. Ich möchte etwas tun, das sowohl mich selbst als auch die Musiker um mich herum herausfordert, und ich möchte, dass sie mich herausfordern und mich Dinge über mich selbst entdecken lassen, die ich in anderen Bands vielleicht noch nicht so sehr erforscht habe. Es geht immer ums Lernen. Wie ich oft sage: Jeder Tag, an dem ich etwas lerne, ist ein wirklich guter Tag.
Du warst bereits ein etablierter Live-Musiker als du beschlossen hast, ein Studium bei Anthony Braxton und Alvin Lucier anzuschließen. Viele Menschen hätten einfach auf dem konventionellen Weg weitergemacht.
Ich war einfach müde geworden. Ich wollte nicht nur als Schlagzeuger abgestempelt werden. Ich dachte damals und denke auch heute noch, dass man viel mehr erreichen kann, wenn man eine Vision verfolgt, die über das reine Begleitmusizieren hinausgeht. Das kann jeder. Ich möchte Komponist sein und meine eigene Musik mit meinen eigenen Bands in Amerika und im Ausland öffentlich präsentieren. Deshalb war es für mich notwendig, diesen Bruch zu vollziehen. Ich trete gerne auf, aber seitdem liegt mein Schwerpunkt hauptsächlich auf dem Komponieren. Es ist großartig, dass ich das tun kann und trotzdem weiterhin die Möglichkeit habe, zu spielen und an Projekten teilzunehmen, von denen ich glaube, dass sie meiner Vision als Komponist und Performer zugutekommen, darunter auch die Tyshwan Sorey Group.
Wie schaffst du es, Balance zwischen Arbeit und Leben zu halten?
Ich muss mich fast zwingen, mir Zeit für Selbstfürsorge zu nehmen, aber auch sicherzustellen, dass ich genug Zeit habe, um an meiner Musik zu arbeiten, ohne ständig auf Tour zu sein. Es ist gut, dass ich einen Manager und einen Assistentin habe, die mir bei diesen Dingen helfen, denn ich bin von Natur aus ein Workaholic. Aber Ruhe ist ein wichtiger Teil der Arbeit von Künstler:innen, sie ist für den Fortschritt genauso wichtig wie die Arbeit selbst.
Deine Komposition »Monochromatic Light (Afterlife)« hat mich auf der Bühne tief beeindruckt. Wie viel Einarbeitung braucht ein solches Werk?
Wir haben intensiv geprobt, doch die Musiker:innen sind so großartig, dass sie die Partitur schnell umsetzen konnten. Wir spielen das Stück seit drei Jahren, und doch ist jede Aufführung einzigartig. Es gibt ein improvisatorisches Element, aber im Wesentlichen interpretieren sie die Partitur jedes Mal neu.
Das Publikum wie auch die Musiker:innen wirkten sichtlich bewegt. Ja. Das Stück ist körperlich wie emotional anspruchsvoll. Es entstand auf dem Höhepunkt von COVID und vieler Ungerechtigkeiten. Musik kann in solchen Zeiten Heilung bringen. »Monochromatic Light (Afterlife)« spiegelt Schmerz und Trauma, soll aber auch Hoffnung vermitteln, dass man inneren Frieden finden und weitergeben kann.