Blow Up
Wenn ein Œuvre erst spät entdeckt und gewürdigt wird, dann stammt es in aller Regelmäßigkeit von einer Frau. Die bildgewaltigen Arbeiten von Marlini Wickramasinha reihen sich in die lange Liste verstellter Sichtbarkeit weiblicher Kunstproduktion ganz trefflich ein. Das fängt schon damit an, dass die 91-jährige Künstlerin, die seit 1962 international ausstellt, bis heute über keinen Wikipedia-Eintrag verfügt — auch wenn das kein Gütesiegel per se darstellt.
Die in London lebende Tochter Kamala beschreibt ihre Mutter als eine genügsame Person. Sie brauche nichts, richte Marlini Wickramasinha ihr meistens aus. Auch jetzt nicht, obwohl sie vor ein paar Wochen gestürzt war, einen Oberschenkelhalsbruch erlitten hat und deshalb auch nicht bei der Eröffnung in der Nippeser Galerie Koppelmann dabei sein konnte. Bedauerlicherweise, zumal sich unter den Besucher:innen offensichtlich viele befanden, die sie persönlich kennen und gerne getroffen hätten. Die Ausstellung ist für Wickramasinha ein Heimspiel, denn seit 1964 lebt sie in Köln. 1958 kam sie aus Sri Lanka nach Deutschland, zunächst nach München, wo sie an der Kunstakademie studierte. Dort traf sie ihren späteren Mann, den Künstler Bruno Gronen, zog mit ihm ins Rheinland und bekam zwei Kinder. Die Prioritäten steckte die zarte Künstlerin, die im grauen Köln der Wirtschaftswunderjahre in ihrem Sari besonders exotisch gewirkt haben muss, laut Tochter deutlich ab: »Ich konzentriere mich nicht auf den Haushalt, sondern auf meine Kinder und die Malerei.«
Die Leidenschaft des Malens ist in all ihren Bildern zu spüren. Auf riesigen, bis zu zwei mal drei Meter großen Leinwänden bannt sie heftige und aufwühlende Szenen in Schwarz, Weiß und vielen Abstufungen von Grau.
Als Vorlage dienen ihr Zeitungsbilder, oft ikonische Pressefotos. Trotz reduzierter Palette ist Wickramasinhas Malerei geprägt durch große Dynamik. Dabei bewegt sie sich zwischen Abstraktion und Präzision. Mitunter ist noch ein Bleistift-Raster des Blow-up-Verfahrens erkennbar, wie beim Gemälde »Kinder von Izieu«. Die 1944 auf Befehl von Klaus Barbie deportierten und später ermordeten jüdischen Waisenkinder blicken vertrauensvoll, halb lächelnd auf ihr Gegenüber. Jedes Gesicht ist stark individualisiert; sie alle tragen dunkle Schatten, die auf ihren gewaltsamen Tod weisen. Wir sehen erwartungsvolle Teenager, die — anders als wir — nicht den Hauch einer Ahnung haben, dass sie nie erwachsen werden.
Die bereits zweite Ausstellung von Marlini Wickramasinha, die Galeristin Janine Koppelmann in kurzem Abstand kuratiert hat, lenkt den Blick auf gesellige Runden (»Maradona Clan«), Feste (»Party Roma«) und Feierlichkeiten (»Oscarverleihung 1937«). Doch dem Glanz wohnt immer eine dunkle Wahrheit inne. Wie schnell Erfolg und Glück kippen können, weiß man nicht nur vom argentinischen Fußballgott Maradona, um den sich hier zwielichtige Freunde und Berühmtheiten scharen. Sophia Loren wird in der blumig betitelten »Villa Romana Fleur de la Passion« mit einem rauschenden Geburtstagsfest gefeiert. Die heitere Szene spielt 1982 — dem Jahr, in dem der Weltstar wegen Steuerhinterziehung für einen Monat im Gefängnis einsaß.
In ihrer Kunst, die ausnahmslos in der Küche und damit inmitten des Familienlebens entstanden ist, interessiert sich Wickramasinha besonders für die Wendepunkte im Leben. In der Ausstellung »Im Schatten des Lichts« sind es oft die Protagonist:innen selbst, die ihren Fall herbeigeführt haben. In der vorangegangenen Schau mit dem Titel »The Aftermath« im Ehrenfelder artrmx. e.V. kreisten die Werke dagegen mehr um historische Ereignisse. Die Künstlerin widmete sich immer wieder den Wehen der unmittelbaren deutschen Nachkriegszeit, den zerstörten Gebäuden und verwüsteten Städten, in denen noch die Leichen lagen.
Interessanterweise spart sie ihren eigenen Kontext weitgehend aus. Ihre Heimat Ceylon wurde 1948 von Großbritannien unabhängig und erst nach ihrem Wegzug im Jahr 1972 zur Republik Sri Lanka. Obwohl der junge Staat von 1983 bis 2009 einen blutigen Bürgerkrieg erlebte, findet das kaum Widerhall in ihrem Œuvre.
Neben der deutschen Geschichte hat Wickramasinha unter anderem die Kriege im Balkan und im Südsudan sowie die Terroranschläge vom 11. September 2001 verarbeitet. Die naheliegende Frage, ob ihre Mutter eine politische Künstlerin sei, verneint Tochter Kamala: Es gehe ihr »um Strukturen, Formen, Gesichter und Rhythmus«. Das ist nachvollziehbar, denn der wohlüberlegte räumliche Aufbau und die gedrängte Spannung sind charakteristisch für ihre Kompositionen. Gegenüber dem Kurator und Kunsthistoriker Manfred Schneckenburger beteuerte Wickramasinha selbst einmal, dass ihr »die Malerei, nicht das Motiv, wichtig sei«. Doch auch er blieb skeptisch: »Auch wenn die Bilder hochgradig abstrahieren, bleibt doch eine frappierende Nähe zum Motiv.«
Lassen sich Grausamkeit und lebenslange Traumata bildlichüberhaupt darstellen?
Landschaften, Stillleben oder unbekannte Menschen gehörten nicht zum point of interest der Künstlerin. Stattdessen: Mörder und Schreckensherrscher wie Rudolf Hess, Stalin oder der libanesische Milizenführer Bachir Gemayel. Oder dies: Unheilvolle Momentaufnahmen nach Katastrophen, etwa zerschmetterte Flugzeuge nach dem Absturz. Die Arbeit »Zerstörte Schule in Volkhoven, 1964« thematisiert den ersten Amoklauf in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein Mann tötete damals acht Kinder und zwei Lehrerinnen in einer Grundschule im Kölner Stadtteil Volkhoven und verletzte 30 weitere. Der so genannte »Feuerteufel« zerstörte nicht nur Menschenleben, sondern auch eine scheinbar heile Welt in dem gerade erst entstandenen Vorort, der für Familien gebaut worden war.
Immer wieder untersucht Wickramasinha die Möglichkeiten der Malerei und lotet ihre thematischen und moralischen Grenzen aus. Lassen sich Grausamkeit und lebenslange Traumata bildlich überhaupt darstellen? Dass ihre malerischen Beiträge zu Gedächtnis und Erinnerung keine leicht verkäufliche Kunst sind, liegt auf der Hand. Die Größe der Arbeiten ist Programm — sie ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Kamala erinnert sich, dass ihr Vater in der Küche manchmal darum bat, die Bilder im Beisein der Kinder umzudrehen. Dabei seien sie und ihr Bruder doch schon immer Teil des mütterlichen Schaffens gewesen.
Die Bleistiftzeichnungen Marlini Wickramasinhas sind teilweise noch krasser als die Großformate. Wir blicken ungefiltert auf die Toten in Bagdad, Sarajevo und im Südsudan — keine leichte Kost. Für Janine Koppelmann ist »dieses zeichnerische Werk ein noch ungehobener Schatz«. Der Cliffhanger zu einer weiteren Ausstellung?
Marlini Wickramasinha, »Im Schatten des Lichts«, Galerie Koppelmann, Baudristr. 5; bis 15.11.; Do–Fr 14–18 Uhr, Sa 11–15 Uhr