Kraftvoller und selbstbewusster filmischer Blick; © Filmfaust

Gesellschaftliche Hysterisierung

Der Kölner Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay über seinen Film-im-Film »Hysteria«

Bei einem Filmdreh wird ein Koran verbrannt. Die Crewmitglieder gehen unterschiedlich mit dem Thema um — schmerzvoll, wütend, gleichgültig, hochmütig — und dann verschwindet das Filmmaterial aus der Wohnung des Filmemachers. Die Frage ’Wer war das?’ wird als multiperspektivischer whodunit inszeniert: Mit unzuverlässigen, widersprüchlichen Aussagen, darunter viele »postmigrantische« Perspektiven ...

Also, diese Begrifflichkeiten »postmigrantisch«, »migrantisch« — die scheitern. Von sechs Figuren im Film haben fünf einen migrantischen Background, mit komplett unterschiedlichen Biografien, und so haben wir sechs Perspektiven auf eine Sache. In »Hysteria« spielt eine große Rolle, warum Kommunikation scheitert — weil einzelne Bilder und Einzelperspektiven die Wahrheit beanspruchen. Hysterie ist, wenn alle irgendwie recht haben. 

Für Deinen Debütfilm »Oray«, der migrantische Perspektiven anhand einer kleinen Liebesgeschichte im muslimischen Milieu vermittelt, bekamst du 2019 den Nachwuchspreis der Berlinale. 2022 folgte, von dir produziert, Cem Kayas »Liebe, D-Mark und Tod«. Wie passt »Hysteria« als Thriller hierzu?

Es ist eine Fortführung meiner Auseinandersetzung mit Bildern: »Liebe, D-Mark und Tod« über migrantische Musikkulturen war bereits eine politisch-historische Herausforderung. Es gibt die, die Macht haben, Bilder zu erschaffen. Und es gibt die, die zu Bildern werden, wodurch sie ihrer Identität beraubt werden. In den letzten zwei Jahren, während des Gazakrieges, des Völkermordes in Palästina, hatten diejenigen, die die Bilder beherrscht haben, die Deutungshoheit über diese Geschehnisse vor Ort, bis die Bildermacht peu à peu durch soziale Medien gekippt ist. Aktuell würde ich nicht mehr den Koran, sondern diesen Krieg als Trigger nehmen, um gesellschaftliche Hysterisierung zu beschreiben. 

Das Publikum mag den Migranten schwach, leidend

Filmisch greifst du auf verschiedenste bildgebende Verfahren zurück: Archivmaterial, Social-Media-Clips, die Laptop-Kamera, das Display der Filmkamera — unterschiedliche Bildermaschinen, die alle Ausschnitte von Wahrheit simulieren oder erzeugen.

Diese gegenseitige Bilder-Macherei — dass wir uns gegenseitig abbilden, zensieren, zerstückeln, zerschneiden, um eine uns gerechte Perspektive zu setzen, ist ein Gewaltakt. Die Figuren filmen sich ja alle gegenseitig und sprechen die ganze Zeit über sich — der »Andere« wird ausschließlich zu unserer Wahrheit oder Deutung missbraucht. Er ist Projektionsfläche, er ist alle Anteile in uns, die wir nicht mögen.

Der Dreh im Film, bei dem der Koran verbrennt, ist eine Re-Inszenierung des Brandanschlages in Solingen 1993. Aktuell widmen sich viele Filme der Aufarbeitung der rassistischen Anschläge der Nachwende-Zeit: »Einzeltäter«, »Das deutsche Volk«, »Die Möllner Briefe«, »Uncivilized«.

Solingen war für uns alle eine traumatische Erfahrung. Persönlich finde ich aber den filmischen Blick auf Solingen oder Mölln oft voller Sentimentalität und problematisch: ein Blick von oben nach unten, der die Viktimisierung von Migranten fortschreibt. Anstatt sich wirklich zu fragen: was ist denn hier meine Rolle als deutscher Bürger?  Die Erfahrung bei »Liebe, D-Mark und Tod« gab uns ein Empowerment, anders über Ereignisse wie Solingen zu sprechen — kraftvoll und selbstbewusst. Etwa mit Hip-Hop die Umkehrung der Leidensperspektive zu zeigen, das fand ich einen sehr gesunden Umgang. Das ­Publikum mag den Migranten schwach, leidend. Ein dreidimensionaler Charakter mit Recht auf Fehler und nicht nur positiven Charaktereigenschaften ist schwierig.

Eure Kölner Produktionsfirma »Filmfaust« ist mit dem Anspruch angetreten, ein neues Kino zu machen: postmigrantische, deutschtürkische Perspektiven authentisch und frei von Stereotypen und Klischees zu erzählen. Auch frei von den Vorerwartungen der »Türhüter« mehrheitlich bildungsbürgerlich-weiß besetzter Gremien.

Das führen wir fort. Aktuell beschäftigt uns, Filme zu machen, in denen Unterhaltung und ästhetisch-künstlerischer Anspruch auch politisch ist, sich also nicht auf Sozialdramen zu reduzieren. Wir sehen uns ja nicht nur als Migranten, sondern auch als Künstler. Deshalb ist »Hysteria« auch als Thriller mit Kinoanspruch erzählt. Nach ­»Hysteria« startet »Siren’s Call«, der eine queere ­Perspektive ­einnimmt.