Jetzt erst recht: Solidarität und Love mit Paradeiser Productions; © Paradeiser Productions

Sharing is Caring

Paradeiser Productions, das Kölner Label für Neues Musiktheater, bringt berührende Theater­momente auf die Bühne. Mit »Love your Darlings« wollen sie gerade in Zeiten der Kulturkürzungen Wertschätzung zeigen — für das Theater, die Kunst und die Arbeit der anderen.

Es gibt ihn: diesen einen Moment im Theater, den man nicht vergisst. Vor Jahren, als Teeanger in »Antigone«, mit all den Gefühlen, die man damals hatte — Weltschmerz, aufkeimende politische Wut, der erste Liebeskummer — brannte es sich ein: das Bild, als die Protagonistin in rasendem Protest gegen ihren Onkel Kreon minutenlang gegen eine Wand rannte, zum schrecklich-traurigen Lied »The Blower’s Daughter« von Damien Rice. Oder vor einer Weile erst: »Don Quijote« am Schauspiel Köln. Nach Jahren der Ruhelosigkeit kehrt der Anti-Held auf einer schiffsartig wankenden Drehscheibe in dunkler Nacht nach Hause zurück, dazu läuft Fugazi mit »I’m so tired«. Wie kommt es, dass sich manche Momente des Theaters so stark einprägen? Was braucht es, damit eine Bühnenszene auf eine so intensive Weise berührt, dass man sie nicht wieder vergisst?

Diese Fragen stellt sich das Kölner Ensemble Paradeiser Productions in ihrem neuesten Stück »Love your Darlings«. Eine interdisziplinäre Bühnencollage, die ganz persönliche Darlings, also diese zutiefst beeindruckenden Theatermomente erfahrbar machen will. Entstanden ist sie im Austausch mit Publikum und ­Kolleg:innen — und will, gerade in Zeiten der Mittelkürzungen, ­einen wertschätzenden, konkurrenz­befreiten Blick auf die Arbeiten anderer richten.

Doch von vorne: Wer ist eigentlich diese Gruppe, die seit Jahren die Freie Szene mit ihrem sehr eigenen Stil aufmischt und dabei immer mit der assoziativen Kraft des menschlichen Gehirns spielt? Wer sind Paradeiser Productions?

2021, mitten in der Corona-Pandemie, entwickelte die Gruppe die Videowalk-Opera »The Soul of the Zeit«, bei der sich Bilder aus dem real life und dem Mobile überlagerten, manchmal überein stimmten, dann wieder auseinander drifteten — und die ganze Zeit war an diesen sperrigen Bewegungen der Performer:innen auf dem Bildschirm etwas merkwürdig, bis man schmunzelnd feststellte: Das Video, das man beim Spazieren durch die Straßen von Ehrenfeld sehen konnte, war rückwärts abgespielt. Es verwundert angesichts dieser cleveren Verspieltheit nicht, dass die Geschichte von Paradeiser Productions bereits lange zuvor auf einem Festival mit dem Titel »Madness and Arts« begonnen hat, wo Kai Niggemann und Ruth Schultz arbeiteten, sich zum ersten Mal begegneten und sich, nach einem gemeinsamen Theaterbesuch, nach »100 Jahre Einsamkeit«, ineinander verliebten. Einige Zeit später, 2009, gründeten sie ein Label für Neues Musiktheater, das sie mit der Regisseurin Sandra Reitmayer und der Tänzerin und Choreografin Katharina Sim in Köln leiten: Paradeiser Productions.

Die Idee, die die vier Künstler:innen von Anfang an verband: Ihre verschiedenen, künstlerischen Expertisen zusammenzubringen — und mit den Bühnenarbeiten bei ihrem Publikum für Irritationen zu sorgen. »Uns interessiert die Frage: Ist das echt? Und damit zu spielen, was Menschen als echt interpretieren«, sagt Ruth Schultz.

So wie in ihrem Stück »It’s only a Papermoon«, in dem eine wahre Begebenheit im Zentrum stand, von dem sie damals in der Zeitung gelesen hatten: In einer Großstadt in Japan hatte ein ganzes Jahr lang eine Frau unbemerkt in der Wohnung eines fremden Mannes gelebt. Herausgekommen war das erst, als er sich über fehlende Lebensmittel im Kühlschrank oder eine benutzte Dusche gewundert und Kameras installiert hatte. Oder die Klanginstallation »Meaning in Noise«, für die Sounddesigner Kai Niggemann endlos viele Millisekunden-Geräuschschnipsel über mehrere Lautsprecher gleichzeitig abspielen ließ: »Im ersten Moment klingt das wie ein furchtbarer Lärm, aber dann beginnt das Gehirn Wort­fetzen herauszuhören, ganze Begriffe irgendwann — und letztlich ist jedes vermeintliche Verstehen nur ein Trick des Gehirns, um Orientierung zu schaffen«, erzählt er.

Und interessiert die Frage, ist das echt? Und damit zu spielen, was Menschen als echt interpretierenRuth Schultz

Für »Love your Darlings« haben sie nun in den eigenen Gehirnen gewühlt, nach Erinnerungen an ihre persönlichen Theatermomente. Und sie haben andere ­befragt. Die Überlegung, wie solche bewegenden Momente auf der Bühne reinszeniert werden können, und wie das überhaupt gestaltet werden kann, ist dabei zentral: »Uns ist klar geworden: Das Publikum orientiert sich bei ihrer Bewertung und ihren Assoziationen ganz stark an der Art, wie wir die eigene Erzählung über ­diese prägende Erfahrung ankündigen«, sagt Ruth Schultz. »Die Wahrscheinlichkeit, dass das Publikum die Reinszenierung dieses Moments als tiefgreifend erlebt, ist viel höher, wenn ich ihn als den Augenblick ankündige, in dem ich gespürt habe, dass ich mein Leben lang Theater machen möchte.« ­Andersherum habe man aber auch einen Einfluss auf das gegenwärtige Theatererleben, das viel wertschätzender für die Arbeiten an­derer sein könne, wenn man sich vor einem Theaterbesuch sage: »In diesem Stück wird es jetzt mindestens einen Moment geben, der mir wirklich gut ­gefällt.«

Um die Theatermomente auf der Bühne noch einmal erzählen zu können, haben sie die Form des Zitats als eigenständige künstlerische Form gewählt. An manchen Stellen machen sie im Stück ihre Quellen deutlich, andere Künstler:innen tauchen erst im umfangreichen Programmheft auf, mit dem Paradeiser den Versuch machen, vollständig zu sein — und an der Fülle und Verwobenheit der einflussreichen Erinnerungen scheitern. Wertschätzung zu ­zeigen für die künstlerische Arbeit der anderen, das sei es, worum es in »Love your Darlings« gehe, und darum, jetzt erst recht Zusammenhalt zu demonstrieren, angesichts der sich verschärfenden Kürzungen in der Förderlandschaft.

»Wenn man sich vor Augen führt, wie groß die Freie Szene in Nordrhein-Westfalen ist, und wie klein die Töpfe, aus denen Fördermittel geschöpft werden können, dann stehen wir rein faktisch alle in einem Konkurrenzverhältnis zueinander«, sagt Kai Niggemann. Das wolle man aber so nicht auf sich beruhen lassen. Paradeiser Productions sind Teil verschiedener Netzwerke, wie etwa das KulturBündnis NRW, ein Zusammenschluss von Künstler:innen aller Sparten und Institutionen des Landes. »Die ohnehin prekäre Lage von Kulturschaffenden und Künstler:innen verschärft sich gerade enorm«, sagt auch Sandra Reitmayer. »Aber es ist schön zu merken, dass wir ein Teil eines Ganzen sind, einer ganzen Freien Szene, und dass es viel Unterstützung untereinander gibt.«

Mit »Love your Darlings« ­wollen Paradeiser Productions auf ihre künstlerische Weise etwas ­geben, ganz nach dem Motto: ­»Caring is Sharing« — das Teilen ­eines berührenden Theater­moments.

»Love your Darlings«, Alte Feuerwache, 7.(P) – 9.11., 19.30 Uhr