Vom Labyrinth zum Fixpunkt

Lange, sehr lange haben die in Köln lebenden Fosco und Donatello Dubini an ihrem Pynchon-Film gearbeitet, der mehr eine Suche nach den Spuren des legendären Autors ist als eine Suche nach dem Autor selbst oder gar eine Biografie. Schließlich bestätigen sie den Status Quo der Pynchon-Forschung im Kino-Format.

Die schönste Geschichte in diesem Film erzählt der Bibliothekar Steve Thomasky. Als er »Die Enden der Parabel«, den dritten Roman Thomas Pynchons, zum ersten Mal gelesen habe, sei er am ersten Tag bis Seite 60 gekommen, am zweiten bis Seite 90, am dritten Tag neu bis Seite fünf, und am vierten Tag habe er sich in die Bibliothek gesetzt, um besser zu verstehen, mit welchen Anspielungen, Querverweisen, naturwissenschaftlichen Ausführungen und Exkursen in die Zeitgeschichte das Buch aufwartet. Die Lektüre begann demnach als geradliniger Prozess, legte sich aber rasch in eine Schleife und wucherte anschließend über die Seiten des Buches hinaus. Je länger sie dauerte, um so weiter entfernte sie sich von ihrem Abschluss.
Der Filmessay »Thomas Pynchon. A Journey into the Mind of [p.]« der Brüder Fosco und Donatello Dubini beschreibt den umgekehrten Weg: vom Chaos eines in Filmbilder übersetzten literarischen Kosmos hin zu der Person des Schriftstellers Thomas Pynchon, vom Labyrinth zum Fixpunkt, von der ausufernden Vorstellungskraft hin zur Biografie, obwohl – oder gerade weil – man über das Leben des Autors von »V.«, »Mason & Dixon«, »Die Enden der Parabel«, »Vineland« und »Die Versteigerung von No. 49« fast nichts weiß. Pynchon ist ein Phantom: Seit knapp 40 Jahren ist er aus der Öffentlichkeit verschwunden, er geht nicht auf Lesereise, gibt keine Interviews und lässt sich nicht fotografieren. Bekannt sind einige Eckdaten: dass er am 8. Mai 1937 geboren wurde, auf Long Island aufwuchs und später an der Cornell University, Ithaca, Literatur, Ingenieurswissenschaften und Physik studierte. Außerdem, dass er in Mexiko-Stadt lebte, in Los Angeles und heute vermutlich in New York, dass er mit seiner Literaturagentin verheiratet ist, einen Sohn hat und in den 50er Jahren bei der Marine war. Viel mehr weiß man nicht, was der Spekulation und dem Gerücht Tür und Tor öffnet. Die Gebrüder Dubini nehmen daran Teil, indem sie ihre Gesprächspartner – einstige Weggefährten Pynchons, Fans, Webmaster von Pynchon-Sites, Kritiker – spekulieren lassen. Das gewagteste bekannte Gerücht jedoch formuliert im Film niemand: dass nämlich Pynchon nur als Autorname, nicht als Person existiere. Die Bücher würden von einer Schreibgruppe verfasst, die sich unter der Regie eines am Berliner John-F.-Kennedy-Institutes für Nordamerikastudien lehrenden Professors versammelt habe.
Weil solche Spekulationen den Büchern Pynchons entspringen könnten, liegt es nahe, den Autor zu behandeln, als sei er seine eigene Romanfigur. Die Gebrüder Dubini wählen diesen Weg, und das geht einigermaßen gut, solange sie sich auf den Überschuss einlassen, solange sie das Labyrinthische der Texte in Filmsprache zu übersetzen versuchen. Etwa zwei Drittel des Films bestehen aus assoziativ montiertem Material. Archivbilder und Interviewsequenzen wechseln in rascher Folge. Oft reicht den Dubinis eine Einstellung nicht aus, so dass sie die Leinwand aufteilen und zwei Sequenzen parallel laufen lassen. Mal vergrößert das rechte Bild einen Ausschnitt des linken oder umgekehrt das linke einen Ausschnitt des rechten, mal hat, was sich in den beiden Rahmen abspielt, nichts miteinander zu tun. Vorbei ziehen Aufnahmen, die Motive aus Pynchons Büchern und Vita aufgreifen: von John F. Kennedy, wie er kurz vor seiner Ermordung durch Dallas fährt, von Lee Harvey Oswald, der gegen die Cuba-Politik der USA demonstriert, von einem Greyhound-Bus, der sich auf den Weg nach Mexiko begibt, von einem Strand in Los Angeles, mal schwarz-weiß, mal wie nachcoloriert, von Raketen, von einer Katze, der LSD verabreicht wurde. US-amerikanische Zeitgeschichte verdichtet sich zu einer Trias aus militärischer Forschung, politischer Verschwörung und Drogen, hinzu kommen Exkurse in die deutsche Geschichte, die vor allem in »Die Enden der Parabel« eine große Rolle spielt. Also zeigen die Brüder Dubini Archivaufnahmen aus Konzentrationslagern, von Experimenten an Häftlingen, von Ärzten, die unter den Nazis Karriere machten und später in den USA an ihre Forschungen anknüpften. »Alles ist miteinander verbunden«, raunt ein besonders ergebener Pynchon-Jünger.
Bis zu diesem Punkt bietet »Thomas Pynchon. A Journey into the Mind of [p.]« nichts wirklich Überraschendes, mit Ausnahme der Musik von The Residents. Was die Gebrüder Dubini machen, ist solide, ein wenig zu vorhersehbar vielleicht, zumal nicht alles, was die Pynchon-Adepten zu erzählen haben, über den Status pubertären Geheimwissens hianusgeht. Im letzten Teil des Films dann gehen die Regisseure in die Falle, die ihnen ihre auf das Rätsel Pynchon fixierten Gesprächspartner stellen. Sie konzentrieren sich auf das Jahr 1997, als »Mason & Dixon« erscheint und es einem Journalisten gelingt, Pynchons Wohnort ausfindig zu machen und den Autor auf der Straße zu fotografieren. CNN drehte daraufhin heimlich ein Video, auf dem angeblich Pynchon zu sehen sein soll. Die Brüder Dubini nehmen am Jagdinstinkt der Journalisten teil, indem sie das Foto des Autors und das Video wie ein Beutestück präsentieren. Aber ist es das, worauf der Kosmos Pynchon hinausläuft? Das Bild eines alternden Mannes? Hätten sie es gehalten wie der Bibliothekar Steve Thomasky, die Dubinis hätten ihrem Filmessay einen Abschluss geben müssen, der die Komplexität des Sujets respektiert, statt es in enge Schranken zu weisen.

Thomas Pynchon. A Journey into the Mind of [p.] (dto), D 01, Buch und Regie: Fosco und Donatello Dubini, 92 Min., Start: 6.12.