Der Orient in den Köpfen
Mathias Énards Roman »Kompass« ist eine Zumutung — zuerst, was seine Form als Roman betrifft. Der Musikwissenschaftler Franz Ritter liegt nachts wach in seiner Wiener Wohnung. Er wühlt acht lange Stunden in seinem Archiv und in seinen Erinnerungen. In seinem Monolog verschwimmen Orte und Zeiten. Ritter ist verliebt in die Orientalistin Sarah und in den Orient. Welche Liebe die andere bedingt, wird im Verlauf des Romans nicht aufgelöst, dafür wird schnell deutlich, dass Ritter sie nicht trennen kann. Franz Ritters Spezialgebiet ist der Einfluss »des Ostens« auf die Musik des Habsburgerreichs, und in Sarah, die ähnlichen Verbindungen in der Literatur nachgeht, hat er die ideale Partnerin gefunden.
Man ahnt es schon: »Kompass« ist ein Gelehrtenroman, der genausogut ein Essay hätte werden können. Ritter stößt in seinen Papieren auf Aufsätze und andere Zeugnisse der akademischen Karriere seiner großen Liebe, die Anlass geben für ausschweifende Erläuterungen über das, was wir heute »Interkulturalität« nennen. Nicht selten münden sie in einer Wutrede ob einer verkürzten Interpretation.
Dabei verschwimmen immer wieder die Ebenen. Ritter erinnert sich an einen Spaziergang durch das jüdische Viertel Istanbuls, monologisiert über die Rolle Wiens in der Orientdarstellung von Balzacs »Die Lilie im Tal« und bedauert anschließend, dass Sarah und er eine Nacht in einem Hotel im mittlerweile zerbombten Aleppo durch eine Zwischenwand getrennt verbracht haben. Selbstverständlich darf auch eine Abhandlung über das korrekte Opiumrauchen nicht fehlen, die Énard mit einer Erinnerung Ritters an die Hinrichtung von Drogendealern im islamistischen Teheran gegenschneidet.
»Kompass« ist mit dem Prix Goncourt, dem bedeutendsten französischen Buchpreis, ausgezeichnet worden; der Spiegel feiert den Autor schon als »Anti-Houellebecq« , weil er darauf verzichtet, den »Orient« als »das Andere« des Westens darzustellen. Dabei ist Énards Buch politische Didaktik vollkommen fremd. Der Orient, dem Franz Ritter in der europäischen Kultur nachspürt, ist ebenso eine Projektion wie die Islam-Dystopie Houellebecqs. Und sich das eingestehen zu müssen, ist die größte Zumutung, die »Kompass« bereithält.
Mathias Énard: Kompass, Hanser Berlin, 432 S., 25 Euro
StadtRevue präsentiert
Institut Francais, 26.10., 20 Uhr