Inseln im Nichts

John Tilbury, der Meister des Pianissimo, feierte im Frühjahr seinen 80. Geburtstag. In Düsseldorf und Köln widmet sich ein Festival dem Avantgardisten

Das letzte Mal, dass John Tilbury in Köln war, liegt fast fünf Jahre zurück. Nach dem Konzert stand er im Loft an der Bar und ließ sich von Gastgeber Hans-Martin Müller einen Wein in die Hand drücken. Er wirkte nach dem dreiviertelstündigen Konzert, bei dem er mit Marcus Schmickler hochkonzentriert kleine sonische Inseln archaisch anmutender Konversation geschaffen hatte, mit britischer Feinnervigkeit präsent und blickte neugierig in die Runde. Die zuvor geleistete Schwerstarbeit schien ihn in keiner Weise erschöpft zu haben, er wirkte klar, ausgeruht und in-tune, wie man so schön sagt.

 

Tilbury besitzt Legendenstatus. Der dieses Jahr 80 Jahre alt gewordene Pianist und Improvisator gilt als der vielleicht wichtigste Interpret Morton Feldmans, ist Mitglied des beständigsten englischen Improvisationsensembles AMM und seit über fünfzig Jahren einer der Fixsterne der Neuen und Improvisierten Musik. Und sein Name ist eng verknüpft mit Leben und Werk Cornelius Cardews, dem Komponisten, Theoretiker und politischen Aktivisten. So eng, dass, will man über Tilburys Leben sprechen, man unwillkürlich auch in Cardews landet.

 

Der als linker Märtyrer verehrte Cardew starb 1981 unter bis heute ungeklärten Umständen, einiges deutete auf einen politischen Mord. Der Komponist war im Nachkriegsengland eine ähnlich zentrale Gestalt wie Stockhausen in Deutschland oder Boulez in Frankreich. Tilbury lernte Cardew 1959 kennen. Der lebte zu jener Zeit in Köln undwar Assistent von Stockhausen. Cardew galt als großer Hoffnungsträger der Avantgarde und experimentierte im Kölner Studio für elektronische Musik mit serieller Komposition. Doch schon zu dieser Zeit, schreibt Tilbury in seiner lesenswerten, 1000-Seiten-starken Cardew-Biographie, die zugleich auch Soziogramm einer Generation und detailliertes Zeitbild ist, war der spätere Maoist der »bourgeoisen und prätentiösen Posen der europäischen Avantgarde« überdrüssig. Stattdessen strebte er einem eher von John Cage inspirierten Musikverständnis entgegen. Cardew schloss sich 1966 dem Ensemble AMM an, das ein Jahr später mit einem Konzert Paul McCartney dazu inspirierte, »some of that Concept shit« aufzunehmen, der dann auf der legendären vierten Seite des nächsten Beatles-Albums zu hören sein sollte.

 

1969 gründete Cardew mit Musikern und Nicht-Musikern das Scratch Orchestra, zu dem auch bald Tilbury stoßen sollte. Die Idee eines Kollektivs, das sich gleichberechtigt aus Profiessionellen wie aus Laien zusammensetzte, um gemeinsam sozio-musikalische  Prozesse zu erforschen, lag zu dieser Zeit in der Luft. Aber in seiner Radikalität war das Scratch Orchester singulär. Mit dem Orchestra spielte man, so Tilbury, gleichermaßen vor »Farmern aus Cornwall, vor Industriearbeitern aus dem Nordosten (...)« wie vor »Musikconnaisseuren, die sonst in die Royal Albert Hall gingen«. Zum Kollektiv gehörten neben Cardew und Tilbury zeitweise Michael Nyman, Brian Eno, Gavin Bryars, Evan Parker, Christian Wolff und Keith Rowe: Musiker, die auf ihre Weise die 70er Jahre prägten sollten.

 

Zu Beginn der 70er begannen Teile der Gruppe sich immer stärker zu politisieren. Cardew, Tilbury und Rowe orientierten sich in Richtung Marxismus-Leninismus, ein anderer Teil folgte anarchistischen Ideen. Das Kollektiv zerbrach, und Cardew verwarf die Avantgarde als Ausdruck bürgerlicher Ideologie und trat in eine kommunistische Splittergruppe ein. Fortan komponierte er Arbeiter- und Kampflieder in der Tradition Hanns Eislers. Seine Mitstreiter Tilbury und Rowe hielten indes an der Idee einer avancierten Musik als utopisch-politische Praxis fest.

 

Mit AMM und in vielen anderen Konstellationen erarbeitet Tilbury seither eine feingliedrige, achtsame Musikpraxis, die das Projekt der Emanzipation der Subjekte zumindest künstlerisch fortzuschreiben sucht. Improvisation bedeutet bei seiner Arbeit immer Risiko. Ihr Gelingen ist von der Kreativität, Achtsamkeit und Offenheit der Teilnehmer abhängig. Seine Konzerte kann man als existentielle soziale Akte verstehen, in dem sich die Subjekte aus ihrer Unterworfenheit lösen und in eine herrschaftsfreie Kommunikation begeben. Eine Utopie, die sich, wenn überhaupt, nur für kurze Momente einlöst. Eine Praxis aber, die sich zu üben lohnt. Je häufiger man scheitert, desto »besser scheitert« man. Der Stichwortgeber dieser Philosophie, Samuel Beckett, ist neben Feldman und Cardew Tilburys vermutlich wichtigster Inspirator.

 

Wenn Tilbury nun anlässlich seines runden Geburtstages in Köln und Düsseldorf ein einwöchiges Festival mit Konzerten, Workshops, Filmvorführungen und Gesprächsrunden gewidmet ist, ist es konsequent, wenn Beckett den Auftakt gibt. Tilbury wird am ersten Abend »Stirring Stills« vertonen und in deutscher Übersetzung vortragen (22.11., Filmwerkstatt Düsseldorf). In dem »Sterbebuch« wird Becketts beharrlicher Trial & Error-Existenzialismus transzendentell: Dem Sterbenden öffnet sich durch eine »trübe Scheibe« ein »ungetrübte(r) Himmel«. Becketts letztes Werk bündelt die für Tilburys Arbeit so wichtigen Momente des Versuchens, des Scheiterns und des Weitermachens noch im Verschwinden.

 

In Tilburys Musikschaffen entsteht vielleicht nicht immer ein herrschaftsfreier Raum, dem König wird aber weiterhin der Kopf abgeschlagen. Sobald Tilbury die erste Taste berührt, hellt das Lichte seines von jeglichem Pathos befreite Spiel den Raum auf, in dem wir alle sitzen und gibt uns Hoffnung. Und wenn er zum Abschluss im Museum Ludwig Transkriptionen von Beatles-Songs zum Besten gibt, werden wir noch einmal daran erinnert, woher im Pop das utopische Versprechen stammt.

 

Festival: 20.–26.11.,»The John Tilbury Tribute«. Kölner Termine:

Mi 23.11., Hochschule für Musik und Tanz, 12–14 Uhr, Seminar: John Tilbury, »Confessions of a piano-player«;

Kölnischer Kunstverein, 19 Uhr, Lesung: John Tilbury liest aus »Cornelius

Cardew: A Life Unfinished«;

Fr 25.11., Loft, Konzert mit Marcus Schmickler und Keith Rowe, 20 Uhr;

Sa 26.11., Museum Ludwig, Konzert: »John Tilbury plays«, 15 Uhr