Dingdong! Karton! Teil 1

 

Der Online-Handel verändert die Stadt. Kaufhäusern, Fachgeschäften und Supermarktfilialen droht die Schließung, Lieferfahrzeuge verstopfen die Straßen, Feinstaub und Verpackungsmüll nehmen zu. All die Paketboten sind nur der Teil in einer gigantischen Maschine, die von unserer Bequemlichkeit befeuert wird. Was geschieht da gerade mit unserer Stadt und unserem Alltag? Wir haben Experten gesprochen und Kurierfahrer begleitet.

Der Schnäppchenjäger als Gottkaiser

 

Der Online-Handel wächst rasant, er verändert unseren Alltag, aber auch unsere Stadt. Drohen die Innenstädte zu veröden, während sich im Altpapier der Verpackungsmüll stapelt?  

 

Kennen Sie den? Ruft jemand im Kaufmannsladen an und fragt: »Können Sie mir bitte 200 Gramm grobe Leberwurst nach Hause liefern?« Antwortet die Verkäuferin: »Das geht leider nicht. Unser Lastwagen ist noch mit einem Brühwürfel unterwegs.« 

 

Der Witz ist alt, seine Pointe hat sich gewandelt: lustig ist jetzt nicht, dass jemand sich einen Brühwürfel nach Hause kommen lässt. Sondern, dass es nur einen einzigen Lastwagen dafür gibt. Denn heute fahren unentwegt Lastwagen mit kleinen Paketen durch die Städte und verstopfen die Straßen, und der Brühwürfel ist heutzutage eher eine Micro-SD-Card, 50 Milliliter revitalisierende Nachtcreme oder eine 0,1-Gramm-Dose Bio-Safranfäden. Was man halt so braucht, möglichst schnell, am besten über Nacht. Das Internet ist ein gigantisches Kaufhaus, in dessen unergründlicher Sortimentstiefe es immer neue Verlockungen zu entdecken gibt. 

 

Aber oft fahren die Paketzusteller vergeblich Adressen an, weil niemand zu Hause ist oder die Nachbarn sich weigern, Pakete für den Shopaholic im Stockwerk drüber anzunehmen. Oder die LKW holen Bestellungen wieder ab, weil sie dem Kunden nicht gefallen. Bis zu 70 Prozent der bestellten Textilwaren gehen retour, 20 Prozent sind es bei Unterhaltungselektronik, sagen Untersuchungen.

 

Der Brühwürfel-Witz stammt aus den 50er Jahren. Damals gab es noch keine Online-Shops, aber Geschäfte, die nach Hause lieferten. Und dann begann der Boom des Versandhandels. Die Online-Shops waren Papier: Kataloge von Unternehmen wie Quelle, Neckermann oder dem Otto-Versand, deren Sortiment stetig erweitert wurde. 

 

So gesehen ist Online-Handel nur die Fortführung dieser Entwicklung. Aber jetzt ist sie ein Problem — logistisch, verkehrspolitisch, ökologisch und auch, was die Arbeitsbedingungen betrifft.    

 

»Wir stehen vor einem radikalen Strukturwandel, wie man ihn noch nicht erlebt hat«, sagt Christiane Jäger, kommissarische Leiterin des Amts für Stadtentwicklung. »Wir wissen, dass sich sehr viel ändern wird. Aber was genau, das ist kaum zu sagen.« Ob die allumfassende Digitalisierung, jene »Industrie 4.0«, bestehende Probleme lösen wird oder neue schafft, weiß niemand.

 

Was wir sicher sagen können, ist, dass Köln weiter wachsen wird, bis 2040 um etwa 200.000 Menschen. Laut der Prognosen werden es überwiegend junge, gut ausgebildete Menschen sein — Menschen, die Geld haben und auf die moderne Kommunikationstechnik einen großen Reiz ausübt: So wird der Online-Handel in Köln stärker steigen als in anderen Regionen, die vom demografischen Wandel geprägt sein werden. 

 

Bereits heute enthält jedes zweite Paket Waren, die privat im Internet bestellt wurden. Wie die entsprechende Logistik organisiert wird, entscheidet auch darüber, wie unser Alltag und unsere Stadt aussehen werden. 

 

Seit 2012 treffen sich Vertreter von Stadtverwaltung und Politik, von Wirtschaft und Wissenschaft zum »Logistikforum Köln«, um drängende Probleme zu diskutieren. Ziel ist ein »regionales Logistikkonzept«, wie es der Rat der Stadt bereits 2010 forderte. Leitlinien bis zum Jahr 2030 sollten vorgegeben werden, unter anderem auch, um »die Belastung der innerstädtischen Infrastruktur durch den zunehmenden Internethandel« zu reduzieren. Bereits im Februar 2015 wurde ein 200 Seiten starker Abschlussbericht vorgelegt. Ziele sind eine verbesserte Verkehrssteuerung, Optimierung von Lieferprozessen, nicht zuletzt die »Entwicklung strategischer Planung und Konzepte«. Die Teilnehmer aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik wiesen damals auf »die Bedeutung einer zeitnahen Umsetzung« hin. »Spätestens Anfang 2016«, so kündigte die Verwaltung an, lege sie der Politik ein »Handlungsprogramm« vor. Geschehen ist in den folgenden zwei Jahren nichts, eine Ewigkeit, bedenkt man, wie rasant die Entwicklungen im Online-Handel sind. 

 

Wie der Lieferverkehr besser organisiert werden könnte, dazu gibt es bislang viele, aber meist vage Ideen, etwa Zustellung durch Roboter oder Drohnen. Manches mutet auch bizarr an. Die Ruhr-Universität Bochum entwickelt mit dem Unternehmen CargoCab ein System, das an die alte Rohrpost erinnert: Durch unterirdische Rohrleitungen sollen sogenannte Caps mit knapp 30 km/h fahren und bis zu zwei Europaletten transportieren. Man kann versuchen, die Symptome zu lindern, die Entwicklung selbst scheint unaufhaltsam. 

 

Schon fordert die Wirtschaft Erweiterungsflächen für die Logistik. Doch in welchem Umfang ist das verträglich? Zumal Flächen für Wohnungen benötigt werden, gerade in Zeiten der Wohnungsnot. Christiane Jäger vom Stadtentwicklungsamt sagt, warum Köln für Logistiker besonders attraktiv sei: Häfen, Flughafen, Autobahnen, Schiene und die zentrale Lage. »Es gibt große Begehrlichkeiten.« Doch die Koalition aus CDU und Grünen im Rat der Stadt sperrt sich, aus mehreren Gründen. Mit einer neuen Logistik-fläche kämen weniger Arbeitsplätze in die Stadt als mit Industrie oder Gewerbe, sagt Jörg Frank, Fraktionsgeschäftsführer der Grünen im Rat der Stadt. Und im schwarz-grünen Koalitionsvertrag steht: »Aufgrund der Flächenknappheit im Stadtgebiet sind der Erweiterung von Logistikinfrastruktur und der weiteren Ansiedlung von Logistikunternehmen enge Grenzen gesetzt.« Frank sagt, deshalb habe man es auch abgelehnt, dass sich DHL in Marsdorf niederlasse, wie es Wirtschaftsdezernentin Ute Berg (SPD) geplant hatte. Köln brauche dringend das Stadtentwicklungskonzept Logistik, sagt Frank. Zudem müsse das LKW-Führungskonzept umgesetzt werden, um die Auswirkungen des Online-Handels in den Griff zu bekommen. 

 

Das größte Problem des Online-Handels, so sehen es viele, ist die sogenannte Letzte Meile, also die Fahrt vom Verteilzentrum an die Haustür. Für Christiane Jäger vom Stadtentwicklungsamt ist daher klar, dass es mehr, aber kleinere Verteilzentren, geben muss. Im Idealfall würden die Waren dann umweltfreundlich mit dem Lastenfahrrad zum Kunden gebracht, sagt sie.  Der Logistik-Dienstleister UPS hat in Hamburg ein Modell entwickelt, bei dem kleine Container-Standorte kombiniert werden mit Lastenfahr-rädern zur sogenannten Feinverteilung. Viele sehen darin ein Beispiel für »nachhaltige Logistikkonzepte«, die den Schadstoffausstoß reduzieren. 

 

Auch Ulrich Soénius, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Kölner Industrie- und Handelskammer (IHK), hält das für wegweisend. »Aber es gibt nicht die eine große Lösung, wir brauchen viele gute kleine Ideen.«  Vor allem müsse man wegkommen von der Haustürbelieferung. »Das kann man dem Kunden durchaus zumuten«, sagt er. »Wir benötigen Zustellalternativen«. Das könne durch Paketstationen in den Veedeln gelingen. Bereits vor zehn Jahren zeigte eine gemeinsame Untersuchung der Stadt Köln, der  Kölner Wirtschafts- und Verkehrsberatung KE-Consult und dem Paketzusteller DHL, wie mit damals 33 Packstationen in einem Jahr 35.000 Fahrzeugkilometer vermieden wurden.  

 

Aber ob UPS-Containerstandorte oder alle naselang eine DHL-Packstation — der Eingriff ins Stadtbild ist nicht zu unterschätzen. Köln ist schon hinlänglich mit ästhetisch fragwürdiger Stadtmöblierung wie Altglascontainern, solarbetriebenen Parkscheinautomaten und digitalen Werbeflächen zugestellt. Werden Pakete in Kiosken angenommen, wie etwa beim Logistiker Hermes, ergeben sich zumindest solche Nachteile nicht. 

 

Aber auch Firmen könnten Paketstationen für private Sendungen ihrer Mitarbeiter anbieten. Der LKW fährt nur eine Adresse an, und die Mitarbeiter nehmen ihre Pakete zum Feierabend mit nach Hause. In der Medienbranche würden solche Inhouse-Packstationen gut genutzt, erzählt Elisabeth Slapio, IHK-Geschäftsführerin für Innovation und Umwelt. Doch Emissionen seien die eine Sache, der Verpackungsmüll eine andere. Waren an den Endkunden werden »lieferfest« verpackt. Da ist die blaue Tonne immer schnell voll. Dass der Online-Handel die Umwelt schone, gilt ohnehin längst als widerlegt, nicht zuletzt, weil ja mehrere konkurrierende Kurier-, Express- und Paketdienste (KEP) oft dieselben Adressen beliefern. Hinzu kommen Leer- und Fehlfahrten, dazu noch die vielen Retouren. 

 

Dass die Kundschaft vom Online-Handel zurück in den stationären Einzelhandel fände, erwartet niemand. Eine Studie des Kölner Instituts für Handelsforschung (IFH) aus dem vergangenen Jahr sieht als Verlierer des Online-Handels den kleinbetrieblichen Fachhandel, aber auch Kaufhäuser. Was bedeutet das aber für die Innenstadt und die Bezirkszentren mit ihren Einkaufsstraßen, Passagen und Shopping-Centern? 

 

Für Susana dos Santos, SPD-Fraktionsvize und Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses, sind die möglichen sozialen Folgen des Online-Handels ein wichtiger Punkt. »Für viele ist die Filiale einer Bäckereikette oder eines Drogeriemarktes immer auch ein Treffpunkt«, sagt sie. Wenn Filialen schließen würden, habe das nicht nur Auswirkungen für die Angestellten, sondern auch für die Menschen und deren Zusammenleben im Veedel. Und Filialen werden schließen, wenn sich ein Teil des Geschäfts vom Stationären Handel in den Online-Handel verlagert.

 

 »Wir müssen uns aber hüten, Leerstand immer nur als Folge des Online-Handels zu sehen«, sagt Elisabeth Slapio von der IHK. Es habe auch mit Nachfolger-Problemen zu tun oder damit, dass sich die Bewohnerstruktur ändere und andere Waren nachgefragt würden. Den stationären Einzelhandel , sagt Slapio, werde es weiterhin geben. Die Zukunft gehöre allerdings dem Hybriden Handel: Ladenlokale erweitert um einen Online-Shop. 

 

Die gute Nachricht für den klassischen Einzelhandel lautet, dass Kunden auch in Zeiten der Digitalisierung  viele Produkte anfassen können wollen, auch riechen oder schmecken. Allerdings gibt es auch Studien, wonach jeder fünfte Online-Kunde sich zwar im stationären Handel beraten lässt, dann jedoch im Online-Shop mit dem billigsten Angebot einkauft. 

 

Der Handel ist komplexer geworden. Bislang reichte Einzelhändlern eine Lage mit hoher Kundenfrequenz, ein Schaufenster und etwas Reklame. Jetzt können sich viele auf die Digitalisierung nicht einstellen. Deshalb gibt es all die Buchhandlungen, deren Besitzern nichts einfällt, außer einen Anti-Amazon-Aufkleber am Eingang anzubringen. 

 

Elisabeth Slapio sagt, dass jener stationäre Handel die besten Chancen habe, dessen Waren »eine Geschichte erzählen«. In der Handelsforschung heißt es, Einkaufen müsse ein Erlebnis sein, »Emotion« wecken. Bloß verkaufsoffene Sonntage mit Schminkclowns für Kinder und Show-Cooking von B-Promis werden kaum reichen. 

 

Immerhin bescheingt soeben eine Studie des Wirtschaftsforschungs-Unternehmen Prognos der Stadtverwaltung, dass Köln Potenzial als »personalisierter Erlebnisort« besitze. Persönliche Kundenansprache der Unternehmen, vor allem in Hotels und Gaststätten, und dazu ein vielfältiges kulturelles und touristisches Angebot — das werde Köln lebendig halten. Die Vision für 2030 ist schon formuliert: »Die Stadt ist Einkaufs- und Erlebnishotspot im Zentrum Deutschlands« und die »Kölner Einzelhändler sind durch Omni-Channel-Strategien über multiple Kanäle erreichbar«, heißt es dort.

 

Doch so viel Omni-Channel — die Kombination mehrerer Online-Offerten und Offline-Handel — ist derzeit im Einzelhandel noch nicht zu bemerken. Es bedeutet zunächst auch mehr Aufwand. Denn das nötige Knowhow muss vorhaden sein, und der finanzielle Aufwand für Logistik und Vertrieb eines Online-Shops ist hoch und nicht ohne Risiko. Selbst wenn es glückt, kann es zu -Kannibalisierungseffekten kommen: Dann wechseln die Kunden lediglich vom stationären Handel zum digitalen Angebot. 

 

Aber selbst wenn es gelänge, dass weiterhin Betrieb in den Einkaufsstraßen der Innenstadt und in den Veedeln herrschte: Dadurch steigt, zusätzlich zum Online-Lieferverkehr, auch der Lieferverkehr zu den Geschäften sowie der Kundenverkehr. »Es können nicht alle mit dem Auto zum Einkaufen in die Innenstadt und die Bezirkszentren fahren«, sagt Ulrich Soénius von der IHK. »Der ÖPNV muss verbessert werden, damit die Menschen umsteigen.« Schon jetzt aber ist die KVB an der Kapazitätsgrenze. Wie soll es da attraktiv sein, sich mit seinen Einkäufen in überfüllte Bahnen zu zwängen? Zumal viele Einzelhändler sich gerade eingestehen müssen, die Bequemlichkeit und die Ansprüche ihrer Kundschaft unterschätzt zu haben. 

 

Der deutsche Markt gilt unter Handelsexperten sowieso als ausgesprochen anspruchsvoll: Schnäppchenjäger, die zugleich Qualität verlangen und einen umfangreichen Service erwarten. Im Online-Handel ist der Kunde mittlerweile nicht nur König, sondern Gottkaiser. Sein Wunsch ist Befehl — und sollte möglichst über Nacht ausgeführt werden. Die Entgrenzung des Berufslebens und die vermeintliche Notwendigkeit, den Rest Privatleben mit Management-Tools zu organisieren, überfordern uns offenbar. Da ist einkaufen zu gehen, schon zu viel. 

 

So kommt es, dass die Digitalisierung des Handels nun auch auf die Lebensmittelbranche ausgreift. Hier, wo  mit frischen, verderblichen Produkten gehandelt wird, wo Kühlketten gesichert werden müssen, ist das besonders heikel. Amazon hat bereits zur Großoffensive auf den deutschen Markt geblasen. Der Konzern verpackt die Lebensmittel in speziellen Kühltaschen. So können sie jedem Spediteur mitgegeben werden, das spart Kosten. Der Kölner Vollsortimenter Rewe, bereits seit 2011 im Online-Geschäft, unterhält hingegen eine eigene Fahrzeugflotte, was bedeutend teurer ist als Amazons System. Derzeit dient der stationäre Handel bei Rewe quasi dazu, das digitale Engagement zu finanzieren. Man will gut am Markt positioniert sein, wenn es richtig losgeht. Immerhin liegt Rewe mit seinem Lieferservice derzeit bundesweit vorn. Essen auf Rädern, früher traurige Domäne der einsamen Alten, ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Mittlerweile lassen sich die Menschen Gerichte aus Restaurants nach Hause bringen. Warum dann also nicht Lebensmittel aus dem Supermarkt? Und so könnten dann tatsächlich, wie im Witz aus den 50er Jahren, Laster mit Brühwürfeln durch die Stadt fahren. Es wäre freilich mehr als ein Brühwürfel, der Mindestbestellwert bei Rewe liegt bei 40 Euro. Aber Amazon ist alles zuzutrauen.