Reise durchs Archipel
Die Statistik zeichnet ein düsteres Bild: In Angola leben Männer im Durchschnitt 46,6 und Frauen 51,4 Jahre. Auf 1.000 Lebendgeburten kommen 126 tote Säuglinge, der Tagesbedarf an Kalorien wird nur zu 41,7 Prozent gedeckt. Auf fast jeden der 11,5 Millionen EinwohnerInnen wartet eine Mine. Die Sprengkörper stammen von überall her: aus den USA, der Sowjetunion, aus Kuba, China, Deutschland, aus Südafrika.
Stellvertreter-Schauplatz im Kalten Krieg
Das Land an der Westküste des südlichen Afrika erlangte erst 1975 die Unabhängigkeit, nach einem langen, erbitterten Krieg gegen die Kolonialmacht Portugal. Kaum war Agostinho Neto als erster Präsident der jungen Volksrepublik in Amt und Würden, brach ein Bürgerkrieg aus, der sich in dem Maße verschärfte, in dem das Land zu einem Stellvertreterschauplatz im Kalten Krieg wurde: Die Sowjetunion und Kuba unterstützten die regierende MPLA (Volksbewegung zur Befreiung Angolas), die USA und Südafrika die Rebellenorganisation UNITA (Vereinigung zur völligen Unabhängigkeit Angolas). Auch nach 1990 konnte sich Angola nicht aus der Misere retten, obwohl mehrere Friedensabkommen unterzeichnet wurden, eine UN-Friedenstruppe eintraf, MPLA und UNITA verhandelten und sich die Führer beider Gruppen, Eduardo dos Santos und Jonas Savimbi, trafen. Wenn der Krieg auch heute kein Ende nehmen will, so nicht aus ideologischen Gründen, sondern schlicht deshalb, weil er profitabel ist. Aus den Schätzen des Landes, aus Erdöl, Diamanten und Quecksilber, lässt sich umso mehr Gewinn schlagen, je instabiler die politische Lage ist.
Pedro Rosa Mendes, Jahrgang 1968, ein portugiesischer Journalist, als Korrespondent der Zeitung »O Público« mit dem Land vertraut, ist 1997 durch Angola gereist und hat aus seinen Beobachtungen ein Buch gemacht. »Tigerbucht« erschien im portugiesischen Original vor zwei Jahren, seit kurzem liegt es in deutscher Übersetzung vor. Mendes reiste durch MPLA-Territorien und UNITA-Gebiete, von der Hauptstadt Luanda aus über die Küstenstädte Lobito und Benguela bis Jamba, einer Stadt ganz im Südosten. Von dort aus führte sein Weg über die Grenze nach Sambia und weiter nach Mosambike, bis an die Ostküste, an den indischen Ozean. Er folgte dabei der Route zweier portugiesischer Forschungsreisender aus dem 19. Jahrhundert, einer Route, die heute wegen der Minen und der Kriegshandlungen kein Mensch mehr befährt, wenn ihm sein Leben lieb ist.
Zuflucht in der Sprachgewalt
Drei Monate dauerte das Unternehmen. Ein Abenteuer, ein Wahnwitz voller Entbehrungen. »Von einem Bett träumen./ Mit Ratten aufwachen./ Mit Angst einschlafen./ Tränen verachten./ Hunde meiden./ Sich entleeren vor anderen. In Flüssen baden, schwimmen, während die Krokodile schlafen, Schlangen fliehen, den Körper mit den Händen trocknen.« Auf UNITA-Gebiet verbrachte Mendes mehrere Tage in Gefangenschaft, oft fehlte ihm Nahrung, Militärs beider Parteien wollten ihn am Fortkommen hindern. Und immer wieder führte sein Weg knapp an Minen vorbei, durch verminte Flüsse, über verminte Straßen, über verminte Schlaglochpisten. Aber Mendes ist weit von jenem Kriegsberichterstattertum entfernt, das sich an seiner Risikolust und an seinem Zynismus bis zur Blindheit berauscht. Im Gegenteil: Was er in »Tigerbucht« schreibt, ist von einer Klarsicht, die man in Afrika-Reportagen selten antrifft, von einer analytischen Schärfe, die verwickelte politische Konflikte erklärt, statt sie durch Warlord-Obskurantismus zu verschleiern. Und während sich das statistische Material jenseits des Vorstellbaren einkapselt, öffnet Mendes sich und seinen LeserInnen ein Terrain, in dem Anschauung und Begreifen möglich werden. Das ist Aufklärung in ihrem besten Sinne.
Wo sie versagt, weil ein Conradscher horror übermächtig wird – und das ist in Angola oft der Fall –, findet Mendes Zuflucht in seiner Sprachmacht. In einer der einprägsamsten Passagen entwirft er den Monolog eines Kämpfers, der einem namenlosen Gegenüber – vielleicht Mendes, vielleicht den Lesern – vom Krieg in Bié erzählt. »Der Horror, dieser Ort, den niemand wahrhaben will. Komm und beug dich in meinen Atem: Dieses Vaterland bin ich. Und auch dieses Kind. Sieh hin, es spielt Fußball, mit einem Menschenschädel. Nicht aus Bosheit. Der Schädel lag da, vor ihm, blank. Du und ich, wir wissen, was ein Mensch darf und nicht darf: Schädel begräbt man, mit Bällen spielt man. Woher soll das Kind das wissen?« Der Sprecher fährt fort, das namenlose Gegenüber immer im Blick. Er spricht vom Hunger, den die Menschen im Krieg leiden. »Hör zu: der ewige Hunger hängt dich an deinem Magen auf, und du stehst am Fenster, willst raus, auf die Straße, wo dein Vater ist, um Hilfe ruft, und du kannst ihm nicht helfen; eine Kugel aus einem Zielfernrohr hat ihn getroffen, ihm aufgelauert, versteckt wie du; Hunde sind über ihn hergefallen.« Mendes führt diese Szene einer Klimax zu, in der sich das Wesen des Krieges entblößt: »Und weißt du was: Nicht dein verdammter Vater-Bruder-Freund, den die entfesselte Wut vor deinen Augen gefressen hat, ist der Krieg. Der Krieg ist dein Neid auf die Hunde, gierig und tierisch. Er vergeht, sobald du zu essen hast, aber das Grauen, die Scham, die du vor den anderen zu verbergen suchst, trägst du dein Leben lang mit dir rum.«
»Tigerbucht« ist kein homogenes Buch. Mendes mischt die Genres, kombiniert Reportage, Essay, Analyse, Reisebericht, Kurzerzählung, Drehbuch, Gedicht. Chronologie ist ihm gleichgültig, ähnlich wie Orientierung im Raum oder eine klare Trennung von Fiktion und Bericht. Sein Text wird dabei so archipelisch wie das Land, das der Autor durchquert. Denn Angola, obwohl Landmasse, gleicht einer Inselgruppe, insofern sich zwischen einzelne bewohnbare Flecken weite Flächen Niemandsland schieben, Territorien, die nicht betreten werden können. »Diese Strecke führt durch einen Archipel«, heißt es, »Benguela ist eine Küstenstadt. Westwärts das Meer, landeinwärts Inseln ohne Ende. Wir sind nicht an allen vorbeigekommen, aber sie sind da. Ich will damit sagen: Das Land ist nicht wie auf der Karte. Man verläßt den Atlantik und fährt ein ins Nichts. Das Meer der Stille, erdabgewandt.«
Doch das Leben weicht nicht aus Angola. Wo der Boden als Fundament von Existenz nicht in Frage kommt, weil er sich an Minen überfressen hat, bedarf es einer anderen Grundlage, und die besteht in einer starken Vision vom Weiterleben: »Eine immer lebendige Vorstellungskraft«. Zum Beispiel in Bonga, einer kleinen Stadt in der Nähe des Cuito-Flusses. Braucht ein Mensch zwei Arme und zwei Beine, um zu überleben? Nicht notwendigerweise. In Bonga bauen sich die Kriegsversehrten neue Körper. Mit Prothesen aus Baumwurzeln und Autoreifen ersetzen sie, was ihnen Minen und Bomben weggenommen haben. So entsteht »eine neue Spezies, halb Mensch, halb Pflanze, zur Hälfte echt, zur Hälfte vorgetäuscht, von der Flora geschaffen«. Im portugiesischen Original steht »fingido« für »vorgetäuscht« – ein Wort, das die Fiktion, das Erfinden ebenso in sich birgt wie die Täuschung.
Über seinen Aufenthalt in Bonga schreibt Mendes im ersten Viertel seines Buches. Viele Seiten später kommt sein Text noch einmal an den Ort zurück. Ein Fest findet statt, Feuer lodern, eine Trommel gibt den Rhythmus vor, ein Mann fängt an zu tanzen. »Ein Mann. Das rechte Bein bis oben hin amputiert.« Ein Kind schnallt ihm die Prothese ab, er tanzt »auf einem einzigen, geflügelten Bein«. Hinzu kommt ein zweiter. »Ein Mann. Das linke Bein bis oben hin amputiert.« Die beiden »tanzen, tanzen, tanzen. Wirbeln mehr und mehr Staub auf, schneller und schneller, mehr und mehr, bis eine orangerote, höllenfarbene, gleißende Wolke die Umfangenen umfängt. In der kollektiven Ekstase enschwindet das Paar in sich, löst sich auf im Staub des Feuers, der Rufe, der Erregung, des Wahns, zwei amputierte Männer verschmelzen im Tanz zu einem neuen Mann, einem Nur-einen-Mann. Intakt, mit einem linken und einem rechten Bein, ein einziger Tänzer, mit Füßen aus Fleisch und Zehen, die das Gleichgewicht halten, ein Wesen, dem nichts fehlt, ein ganz normaler Mann – ein Sohn Gottes, und daher vollkommen.« Als die Trommel verstummt, gleiten die beiden Männer zurück in die Existenz des Einbeinigen. Die »immer lebendige Vorstellunsgkraft« jedoch bleibt.
Pedro Rosa Mendes: Tigerbucht. Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel, Amman Verlag, Zürich, 416 S., 44 DM.