Und irgendwann werden alle ganz still...

Das NRW-Projekt »Tanz in Schulen« beschreitet neue Wege in der Kinder- und Jugendbildung

Künstler, die heute wirklich noch die Welt verändern wollen, müssen Sozialarbeiter oder Lehrer werden – wie Royston Maldoom. Einst war er Choreograf, dann entdeckte der Engländer sein pädagogisches Charisma und nun jettet er durch die Welt um seine Mission überall auf dem Globus zu streuen: Tanz tut gut. Vor allem in Deutschland rüttelte diese schlichte Botschaft viele wach. Der Film »Rhythm is it!« war nach dem hiesigen Pisa-Flopp ein Heilsbringer, er schien die Lösung parat zu haben, wie man unsere verroht-frustrierten, computersüchtigen, pummeligen und multiethnischen Kinder disziplinieren und ihnen zugleich kreative Energien entlocken kann: Lass sie tanzen!

Mathematik mit Bewegung

Der Boom, die vielen Nachahmer-Projekte, die ständigen Hymnen auf sozialpädagogisch wertvolle Kunst mögen nerven. Doch für all jene, die sich schon seit Jahren um die Aufwertung der musisch-künstlerischen Fächer in den Schulen bemühen, bedeutet er eine gewaltige, auch finanzkräftige Anschubkraft. Zum Beispiel für das Kölner Landesbüro Tanz. Vor vier Jahren motivierte die Institution Ganztagsgrundschulen in Nordrhein-Westfalen, es mit seinem Projekt »Tanz in Schulen« zu versuchen. In 28 Schulen wurde das Unterrichtsfach Kreativer Tanz eingeführt, teils als Arbeitsgruppe nachmittags, teilweise aber auch als verpflichtendes Fach im regulären Schulunterricht.

Beispiel: Beim Besuch der 3. Klasse einer Grundschule in Köln stürmen die Kinder aus dem theoretischen Unterricht in die Aula. Dort erwartet sie eine freundlich-autoritäre Tanzpädagogin mit einer CD rhythmischer Musik. Die Kinder sollen verschiedene Temperaturgrade mit Körperreaktionen illustrieren. Sie rennen durcheinander und bilden auf Kommando Cluster unterschiedlicher Anzahl, bauen Häuser aus ihren Körpern und vermessen anschließend die Abstände – Mathematik mit Bewegung. Das ist eines der Ziele im kreativen Tanz: kognitiv erfasstes Wissen zu vertiefen, an emotionales Erleben zu knüpfen.

Sponsoren gesucht

Es ist ja längst Küchenpsychologie, dass das Gehirn eine Gefühlsmaschine und das Lernen mit dem Fühlen eng verknüpft ist, homo ludens lernt besser. Manche Jungs in dieser Klasse nöhlen auf Nachfrage noch nach dem Fußball. Aber das wirkt bloß wie cooles Gehabe, wenn sie dann ebenso aufgeregt wie die Mädchen im Stopptanz möglichst originelle Körperformen bilden. »Mir ist es gar nicht peinlich hier zu sein«, versichert ein emanzipierter Junge. »Das ist ja kein richtiger Tanz, sondern mehr Bewegung und Formenmachen.« Und ein Mädchen platzt heraus: »Hier kann man Aufführungen machen, beim Sport nicht!«

Der Begeisterung der Kinder folgte die der Lehrer und Schulleiter. Inzwischen ist die Zahl der beteiligten Schulen auf über sechzig angewachsen – trotz der erforderlichen finanziellen Eigenbeteiligung. Rund 2.000 Euro im Jahr müssen die Schulen für die Honorare der Tanzpädagogen aufbringen, in sozialen Brennpunkten hilft das Landesbüro bei der Akquise von Sponsoren. Die Organisation des Projekts sowie die Kosten für die Supervision der Unterrichtenden übernehmen mit 63.000 Euro pro Jahr das Land NRW sowie mit 6.000 Euro die Kulturabteilung der Staatskanzlei. Das Landesprojekt fand bundesweit Nachahmer, so dass nun auch Schulen in Berlin, München oder Bremen nach dem NRW-Modell Tanz als Unterrichtsfach eingeführt haben. Ab nächstem Jahr wollen sich auch weiterführende Schulen beteiligen, das Genoveva-Gymnasium in Köln will sogar Tanz als Fach mit Leistungsbeurteilung etablieren. Dergleichen gab es deutschlandweit bislang nur im Gymnasium Essen-Werden, das mit der Folkwang-Hochschule verbandelt ist.

Im Vordegrund: soziales Lernen

»Beim Sozialverhalten im Klassenverband werden große Fortschritte festgestellt«, fasst Projektleiterin Linda Müller die positiven Rückmeldungen zusammen. Und Anne Tiedt, Dozentin an der Sporthochschule Köln, konkretisiert: »Im Vordergrund beim kreativen Tanz steht das soziale Lernen. Man begegnet seinen Mitschülern nicht als Konkurrenten, sondern als Mitmachenden. Da sehe ich einen großen Vorteil gegenüber dem stärker wettbewerbsorientierten Sportunterricht.« Kinder, die bislang vor allem aggressive Körperkontakte hatten, lernen, auf anderem Weg Nähe herzustellen.

Ob auch das Selbstbewusstsein wächst, die Körperwahrnehmung, die Bewegungsphantasie und die Identität gestärkt aus den Übungen hervorgehen, wie die hehren Ziele in den Veröffentlichungen des Landesbüros lauten, lässt sich bislang nur vermuten – die wissenschaftliche Begleitung des Projektes durch die Sporthochschule wartet noch auf Resultate. Doch wenn man bei einer Aufführung zusieht, wie alle Kinder irgendwann ganz still werden und auch die Molligen unter ihnen in zarten Schnörkeln ihre Gliedmaßen entfalten wie aufgehende Blüten, möchte man wieder daran glauben: Kunst kann die Welt eben doch ein bisschen besser machen.

www.tanzinschulen.de