Demokratie, langweilig wird sie nie
Sie wollten es nicht. Das ist die Motivation hinter der schrillen Kritik der Verantwortlichen im Beck-Verlag an Luciano Canforas »Eine kurze Geschichte der Demokratie«. Canforas kurze Geschichte der Demokratie erscheint in der europaweit von mehreren Verlagen initiierten Buchreihe »Europa bauen«, einer dieser Verlage ist Beck, der einzige, der das Traktat nicht drucken mochte. Letzten November zog Beck das Buch, das schon der Nationalbibliothek gemeldet war und dessen Text in einer Rohfassung vorlag, zurück: Die Arbeit entspreche nicht wissenschaftlichen Standards, sei mithin voller inhaltlicher Fehler, erhalte dazu unerträgliche politische Schlussfolgerungen – die Verharmlosung stalinistischer Verbrechen und die Verunglimpfung bürgerlicher Liberalität.
Fehlerhafte Rohübersetzung
Luciano Canfora ist nicht irgendwer. Der Professor an der Universität Bari ist einer der führenden Altphilologen, seine Cäsar-Biografie (von Beck veröffentlicht) ist maßgebend. Seit 1990 erscheinen seine Bücher auch in Deutschland, teils in mehreren Auflagen. Sollte dieser souveräne Forscher in einen Zustand ideologischer Umnachtung gefallen sein? Eher nicht: Viele sachliche Fehler, die der Verlag bemängelt, gehen auf die Rohübersetzung zurück. Rohübersetzungen, das liegt in der Natur der Sache, sind meistens mangelhaft, also hätte der Verlag in Rücksprache mit dem Autor die sinnentstellenden Übersetzungsfehler diskutieren müssen. Was aber nicht geschah. Sie wollten es nicht. Sie wollten es nicht und verschickten an die Presse eine Liste mit den vermeintlichen Fehlern Canforas.
Mangelnde wissenschaftliche Standards kann man Canfora also kaum unterschieben, bleiben als eigentlicher Grund die politischen Vorwürfe. Was ist dran an ihnen? Falsche Frage. Denn damit folgt man den Vorgaben des Beck-Lektorats, und diese erscheinen durch die unlautere Begründung der Ablehnung fragwürdig.
Worum geht es Canfora überhaupt? Richtige Frage. Um die Entzauberung und letztlich Destruktion der angeblichen Erfolgsgeschichte des europäischen Demokratiemodells: »Wir stellen also fest, dass Herrschaftsformen, die in der politischen Theorie gemeinhin als einander fremd oder entgegengesetzt gelten, in der konkreten Wirklichkeit eine enge und irritierende Verwandtschaft aufweisen.« Demokratie und Diktatur, Freiheit und Unterdrückung – diese Gegensatzpaare sind sich näher, als wir liberaldemokratisch erzogenen Bürger anzunehmen bereit sind. Dagegen gehen Freiheit und Gleichheit viel seltener zusammen. Diese Attacke also reitet Canfora, nimmt aber nicht den Standpunkt eines unbedingten Linksradikalismus ein, sondern attestiert z.B. Stalins Politik einen ungleich höheren Realitätsgehalt als den hochtrabend revolutionären Ambitionen Trotzkis.
Kritik an Demokratie-Ideologie
Er verteidigt die französische Revolution (1789) wie die russische (1905/1917) und will diesen Akt, in dem die Subalternen gegen die herrschende, die besitzende Klasse ihre Demokratie durchsetzen, nicht durch das Scheitern dieser Revolutionen nachträglich entwerten. Im Gegenteil, ihn interessiert, was jemand wie Stalin mit den Trümmern der Revolution angefangen hat – nämlich auf terroristische Weise eine nationale Einigung zu erzwingen, die die Sowjetunion aber auch in den Stand versetzte, den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen.
Ziel des Buches bleibt die Kritik bürgerlicher Demokratie-Ideologie. »Es war ein enormer propagandistischer Vorteil für das westliche Lager«, schreibt er über die Situation ab 1945, »den Begriff ›Demokratie‹ ganz allein für sich in Anspruch nehmen zu können, während eben dieser Westen gleichzeitig mit Riesenschritten auf die Restauration einer unkontrollierten freien Marktwirtschaft zusteuerte und sich bereits (auch illegaler!) staatlicher Apparate bediente, die im Kampf gegen den Kommunismus« zu allem bereit waren. Ein Geschenk des Himmels also, dass man all das ›Demokratie‹ nennen konnte.«
Canforas Traktat ist kein genialer Wurf: Linke Demokratiekritik gibt es woanders knackiger (etwa in den Frühschriften von Karl Marx); die Auseinandersetzung mit Stalin lässt einen, obwohl Canfora kein Stalinist ist, frösteln, es gibt Fundierteres zur Stalinkritik, nicht nur von Trotzkisten. Last not least ist seine tour de Force durch 2500 Jahre Demokratieillusion und Demokratieverhinderung allzu schwindelerregend: Manchmal arbeitet er hypergenau, dann springt er unvermittelt zwischen Ideen- und Sozialgeschichte; einige rasante Sprünge und hyperdetaillierte Einzelanalysen vermitteln sich schlecht.
Hohes Schockpotential
Ist sein Traktat nicht genial, so ist es doch von einer erfrischenden Unverschämtheit. Canfora operiert auf dem Terrain des akademischen Mainstreams – er betreibt keine Minderheitenforschung, keine Sozialgeschichte von unten. Es geht ihm um das große Ganze, eben die Geschichte der Demokratie. Auf diesem Feld, auf dem sonst die staatstragenden Historiker unter sich bleiben, verteidigt er die absolute Legitimität des Einspruchs der Subalternen gegen die sanktionierte Vorstellung von Demokratie. Das hat, siehe Beck, ein hohes Schockpotenzial, zumal Canfora auch noch richtig gut schreiben kann.
Der Beck Verlag hat die Rohübersetzung samt der sich daran anschließenden eigentlichen Lektoratsarbeit dem kleinen Kölner Papyrossa Verlag überlassen. Eine liberale Geste, so umgeht man zu erwartende Zensurvorwürfe. Denn eine Zensur gibt es ja nicht. Wir leben in einer Demokratie!
Luciano Canfora: Eine kurze Geschichte der Demokratie. Aus dem Italienischen übersetzt von Rita Seuß, Papyrossa Verlag, Köln 2006, 404 S., 24,90 €.
Ders.: Das Auge des Zeus. Deutsche Geschichtsschreibung zwischen Dummheit und Demagogie – Antwort an meine Kritiker, aus dem Italienischen übersetzt von Christa Herterich, Konkret, Hamburg 2006, 91 S., 10 Euro.