Der alljährliche Kontrollverlust
Sind wir sicher?
Sicher ist an Karneval nur, dass Aschermittwoch alles vorbei ist. Aber wenn die Bevölkerung mal eben um ein paar Hunderttausende Betrunkene anwächst, steigt auch die Gewaltbereitschaft. 551 Körperverletzungen hat die Polizei im vergangenen Jahr von Weiberfastnacht bis Veilchendienstag registriert. Das sind im Tagesdurchschnitt etwa dreimal so viele wie im gesamten Jahr 2015. Nach den sexuellen Übergriffen an Silvester 2015 ist vergangenes Jahr auch die Zahl der angezeigten Sexualdelikte gestiegen: um 266 Prozent. Laut Polizei ein gutes Zeichen. Frauen trauten sich jetzt endlich, Grapscher anzuzeigen. Die Polizei hatte nach den Übergriffen verboten, Spielzeugpistolen zu tragen, und die Stadt richtete Anlaufpunkte für Frauen ein. Ob es das jetzt wieder geben wird? »Die letzten Details stehen noch nicht fest«, sagt Stadt-sprecherin Inge Schürmann kurz vor Redaktionsschluss Mitte Januar. (Christian Werthschulte)
Was gibt es zu hören?
Karneval und Pop: Ein verkorkstes Verhältnis. Denn natürlich ging die Pop-Revolution der 60er am rheinischen Karneval nicht spurlos vorüber. Die Bläck Fööss adaptierten Songformen und Harmonien, wie sie nicht zuletzt die Beatles populär gemacht hatten. In den 70ern galten die Bläck Fööss denn auch als kölsche Beatles und führten Karnevalsmusik ganz knapp an die Grenze der popkulturellen Kanonisierung. Kann ja noch kommen: In zehn Jahren, unsere Prognose, wird ein postmigrantisches Publikum erstaunt über ihre frühen Alben stolpern und aus ihnen einiges über die alte Bundesrepublik lernen.
Aber diese Aneignung und das Zitieren von Popsongs ist im hiesigen Karneval eben kein Spiel mit Zitaten, kein Sich-Einreihen in ein globales Pop-Netzwerk, es ist nicht zu verwechseln mit dem Sampling im klassischen HipHop und den Dub-Mischkünsten der großen Reggae-Produzenten. Es geht einfach um die dufte Stimmung, für die braucht man dufte Melodien, und wenn das Publikum die schon mal gehört hat — umso besser! Karnevalsmusik ist Pop ohne Pop.
Aber an den Rändern bröckelt der Karnevalsmonolith: Vor ein paar Jahren waren es die Raves am Hans-Böckler-Platz, die mit kölschen Minimal-Techno den Wieverfastelovend neu definierten. Die Büdche Boys (27.2., Sonic Ballroom) treiben die Zitatkunst auf die Spitze (Beastie Boys!) und spielen stoischen Old-School-HipHop, der aber auch maximal kölsch ist. Auch die Humba Party will nicht nur einfach weltmusikhaft Musikstile adaptieren, sondern sucht nach dem verbindenden orgiastischen Element in den Feiermusiken. Der Trend wird sich fortsetzen, aber bis Karneval und Pop ihr verhältnis einwandfrei geklärt haben, werden Brings und Kasalla noch ein paar Nr.1.-Hits haben. (Felix Klopotek)
Wer kommt alles?
Wenn der Straßenkarneval beginnt, werden die Schlangen an den Gates des Flughafens in Porz-Wahn länger. »Karneval ist für die Touristiker traditionell ein starkes Outgoing-Geschäft«, sagt Josef Sommer, Geschäftsführer von Köln Tourismus. »Aber es sind noch immer genug Kölner da.« Die bekommen an den Karnevalstagen massig Gesellschaft. »Der Faktor Karneval ist sehr wichtig für den Kölner Tourismus«, so Sommer. Er transportiere das Image der Stadt — und bringe Geld. Laut der amtlichen Statistik des NRW-Landesbetrieb Information und Technik gab es 2015 zwischen Weiberfastnacht und Veilchendienstag 100.000 Hotelübernachtungen. Noch einmal doppelt so viele Besucher kamen privat unter. Clever! Denn wer sich für die zwei Quadratmeter kalte Fliesen in der WG-Küche entscheidet, kann tagsüber mehr Runden schmeißen. Von den Übernachtungsgästen kam fast ein Drittel aus dem Ausland. Angst vor Terror und die Ereignisse der Silvesternacht aber hätten 2016 zu neun Prozent weniger Buchungen aus dem Ausland geführt, sagt Sommer. Mit den noch einmal deutlich zahlreicheren Tagesgästen brachte es der gesamte Straßenkarneval trotzdem wieder auf drei bis vier Millionen Besucher. Was die alle nach Köln zieht? Sommer: »Das hat mit der Authentizität und der langen Tradition zu tun.« Alle, die bei Karneval eher verstopfte Kneipen-Pissoirs, Krawall und müllgepflasterte Straßen verbinden, können sich noch immer ins Outgoing-Geschäft einreihen. (Jan Lüke)
Wem nützt das?
Die Studie der Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group (BCG) zur »gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung des Karnevals« hat weite Kreise gezogen. Noch heute wird sie aus der Schublade gekramt, wenn jemand an der Wichtigkeit des Karnevals zweifelt. Die Befunde sind zwar aus der Session 2008/2009 und damit nicht taufrisch, aber: Sie können sich sehen lassen. Die Wirtschaftskraft des Kölner Karnevals, so die BCG, betrage 460 Mio. Euro, in die zu zwei Drittel die Gastronomie (165 Mio. Euro) mit zum Beispiel 957.000 Kneipenbesuchern, die Spiel-waren (85 Mio.) mit anderthalb Millionen verkauften Kostümen und der Transport (75 Mio.) mit 540.000 Taxifahrten einzahlen. Auch 204.000 Friseurbesuche (8,1 Mio. Euro) und 104.000 verkaufte Orden (5,1 Mio.) sorgen für Zahlungsströme. In der Summe, so rechnet die BCG, unterstütze der Kölner Karneval den Erhalt von 5000 Arbeitsplätzen in der Region. Der Klüngel als methodisch schwierig zu erfassender Faktor ist noch nicht eingerechnet: »Der Karneval ist eine große Kontaktbörse und bietet damit die Plattform für Geschäftsanbahnungen und fördert die Kommunikation innerhalb von Netzwerken«, schreibt die BCG. Was man sich nicht in jedem Fall bildlich vorstellen möchte. Allerdings kostet Karneval auch — aber darüber spricht man weniger gern. Die Erfahrung jedenfalls machten unter anderem die Piraten im Rat der Stadt Köln, als sie die finanzielle Förderung des Karnevals prüfen lassen wollten. »Der Karneval ist der heilige Gral«, sagt Piraten-Sprecher Thomas Hegenbarth. Trotz aller wirtschaftlichen Vorteile aber müsse es erlaubt bleiben, Förderungen und Kosten zu hinterfragen, so Hegenbarth. Letztere belaufen sich für die Stadt auf 1,7 Millionen pro Jahr. Das hatte eine Anfrage der Linken ergeben. Die BCG kam jedenfalls zu dem Schluss: »Momentan keine substantielle Gefahr für Zukunft des Kölner Karnevals.« Diese Aussage wird nun auf die Probe gestellt: Das Festkomitee Kölner Karneval hat in Auftrag gegeben, die Studie wiederaufzulegen. Über die Gründe ließe sich streiten, aber das Ergebnis wird auch diesmal positiv ausfallen. (Jan Lüke)
Wie trinkt man?
Niemand soll zu tief ins Glas schauen, zumindest nicht auf der Straße. Zum Vermächtnis des zuletzt so unglücklich agierenden Stadtdirektors Guido Kahlen (SPD) gehört das »Glas-Verbot« in der Altstadt und rund um den Zülpicher Platz. Im Presseamt der Stadt ist man auch mehr als sieben Jahre nach Einführung so begeistert wie am ersten Tag: »In welcher Stadt sonst bekommen Sie diesen Service geboten?«, sagt man dort zur Möglichkeit, einen Gratis-Becher für sein Getränk aus der Glasflasche zu bekommen. Es ist insbesondere ein Service für Polizisten, denn die beschwerten sich nach Karneval 2009, dass die tollen Tagen zunehmend aggressiver und Glasflaschen zu Waffen würden. Jeder Rettungssanitäter wird bestätigen: Glas und Alkohol passen schlecht zusammen. Aber was passt schon mit Alkohol zusammen, außer noch mehr Alkohol? Natürlich schmeckt Kölsch aus der Dose oder dem Plastikbechern nicht, aber tut es das sonst? Und um kulinarische Raffinesse geht es Karneval nicht: Halver Hahn, Kneipen-Frikadellchen, Döner-Mampf — noch Fragen? Ihren Durst stillt die Jugend ohnehin nicht mehr mit lokalen Bierspezialitäten, sondern zunehmend international. Und Wodka — jedenfalls die goutierte Supermarktware — schmeckt noch neutraler als Kölsch. (Bernd Wilberg)
Was ziehe ich an?
Um eines gleich klarzustellen: Wer mit KEC-Trikot oder mit Atze-Schröder-Perücke oder als sexy Polizistin oder Pilot herumläuft — so jemand ist nicht kostümiert, sondern nur spitz wie Nachbars Lumpi. Aber was ist mit den Classics? Mit Indianer? Mit Cowboy? Ist das politisch korrekt? Man möchte jedenfalls nicht im Bierdunst zu »Pizza wunderbar« darüber diskutieren müssen. Also ist Originalität gefragt — und eben nicht Donald Trump. Ebensowenig, wie Tote zu verhöhnen: Fidel Castro, Bud Spencer, Peter Lustig — alles nicht lustig. Und George Michael trug diese irre Föhnfrisur wirklich nur die kürzeste Zeit seiner Karriere als Kopfbedeckung. Wisse: Gruppenkostüme sind die Königsdisziplin in der karnevalistischen Kleiderordnung! Hier kann man enorm Eindruck schinden — oder sich zum Deppen machen (»Um das jetzt zu verstehen, fehlen noch zwei von uns, aber die sind schon im Krankenhaus«). Wir empfehlen Ideen mit regionalem Bezug: Kalkberg-Desaster, Kostenexplosion Opernsanierung (bitte ohne Pyrotechnik) oder Dritte Baustufe Nord-Süd-Stadtbahn. Schwierig? Durchaus. Aber politisch korrekter als Indianer und Cowboy. (Bernd Wilberg)
Wie viel muss ich trinken?
Viel. Natürlich wäre das ganze Tamtam angenehmer, viel fröhlicher und freundlicher — wenn die karnevalistische Etikette vorgäbe, nur maßvoll zu süffeln. Aber dann wäre das Spektakel kaum zu ertragen. Ohnehin ist der kölsche Karneval, dessen Ursprung anarchisch, gewalttätig, unmoralisch ist, traditionell alkoholisch. Man kann das als »dionysisch« verbrämen, ja, man kann eine Kritik an den bestehenden Verhältnissen unterstellen, sogar Widerstand und Aufbegehren. Aber es bleibt dabei: saufen, pissen, kotzen, pöbeln. Und dass es an Karneval längst einen bundesweiten Sex-Tourismus gibt, passt auch nicht zum Marketing des Kölschen Fasteleer, der sich seit Jahren müht, das Fest allen Ernstes als »familienfreundlich« und »friedlich« zu bewerben. Die Zielgruppen, die der organisierte Kölsche Karneval anvisiert, sind völlig unterschiedlich und in ihren Bedürfnissen widersprüchlich. Es gibt es den lustigen Kinderkarneval — und das kollektive Pöbeln enthemmter besoffener Spießer. Letztere prägen das Bild, und das kann man sich eben nur mit Alkohol schöntrinken. (Bernd Wilberg)
Was muss ich kennen?
So alt der Karneval sein mag, so neu ist das Karnevalslied. Viele Songs, die traditionell Karneval gespielt werden, sind eigentlich ein autochthoner Mix aus Bänkelsang, Chanson, Marsch und Schlager. Mangels durchlaufender Bassdrum sind die besten Stücke des Genres nur noch Musikhistorikern bekannt. Oder wann haben Sie zuletzt Karl Berbuer oder Willi Ostermann gegrölt? Die renommierteste Kölner Band überhaupt — knapp vor Can — sind die Bläck Fööss, und obwohl die sich nie als Karnevalsband im engeren Sinn begriffen haben, gelten sie als Band der tollen Tage — tatsächlich gibt es kein einziges Karnevalslied der Fööss. Zum Glück, denn sonst wären die kölschen -Beatles auch nicht so gut. Aber auch ein Rausch wie Karneval braucht Regeln, und ein ungeschriebenes Gesetz ist es eben, dass man Karneval nur kölsche Musik hören darf — und dass man weder Robbie Williams noch Helene Fischer noch guten HipHop zum Wachwerden auflegt. Und bitte, bitte niemals zu »Drink doch eine met« (1971) von den Fööss im Refrain »Zick, Zick, erömm« in die Pausen rufen! (Bernd Wilberg)
Wie kann ich entkommen?
Wer Kammellen und Büttenreden entkommen will, der bucht am besten früh. Ansonsten sind die Ferienhäuser in den Niederlanden, die Wellness-Pakete im Sauerland sowie die günstigen Bahntickets zu den Metropolen Paris und Brüssel ausverkauft. Aber Karnevalsmuffel, die den Zeitpunkt zur Flucht verpasst haben, können trotzdem über die tollen Tage glücklich werden. Denn es gibt eine neue Lebensphilosophie, die ihrem unorganisiertem Wesen entgegenkommt: Hygge. Ausgedacht haben sich Hygge unsere dänischen Nachbarn. Diese sind nämlich laut »World Happiness Report« das glücklichste Volk der Welt. Das hat weniger mit den Theorien des dänischen Nationaldepressiven Sören Kierkegaard zu tun, der glaubte, dass man nur im vollkommenen Glauben ohne Verzweiflung sein könne. Sondern die Dänen verdanken ihr Glück einer skandinavischen Form von Feng Shui. Richtet man seine Wohnung mit vielen Kerzen, einer großen Couch und vielen Kissen ein, braucht man nur noch bequeme Schlabberklamotten sowie ein paar gute Freunde, denen der Sinn auch eher nach Spieleabend, Binge Watching und gemeinsamem Kochen steht. Hygge ist das Gegenteil von abwechselnd Kölsch und Kasalla, es ist eine nicht-karnevalistische Form der Transzendenz, die man bequem in den eigenen vier Wänden erfahren kann. Und falls man der ganzen Hyggeligkeit überdrüssig wird und doch noch feiern will, dann hat man mit dem schlabberigen Strickpulli und den wohligen Wollschlappen auch gleich das perfekte Karnevalskostüm gefunden: als Trendopfer. (Christian Werthschulte)