Ein Mann sieht rot

In The Salesman zeigt Asghar ­Farhadi brillant die Krise des ­iranischen Mittelstands

Als Rana eines Abends im Badezimmer ihrer neuen Etagenwohnung überfallen und verletzt wird, entschließen sich sie und ihr Mann Emad, die Polizei nicht zu informieren. Ob Rana vergewaltigt wurde, bleibt wie so manches andere unklar, jedenfalls will sie sich nicht den Fragen zudringlicher Beamter aussetzen, die »sowieso nichts unternehmen werden«, wie die hilfsbereite, aber neugierige Nachbarschaft versichert. Emads eigenmächtige Ermittlungen führen ihn zu einer Bäckerei in Familienbesitz; er verdächtigt den Bäckersohn und lockt ihn in seine alte, abgeschiedene Wohnung, um ihn dort zu konfrontieren.

 

So gerät der aufgeschlossene, sympathische Literaturlehrer Emad — der sich gegen engstirnige Vorgesetzte und absurde Zensurregeln den Respekt seiner Schüler verdient — in einen Furor der Selbstjustiz. Damit führt Regisseur Asghar Farhadi (»Nader und Simin«) ein Thema seiner Filme weiter: die Krise des iranischen Mittelstands, der sich trotz seiner Aufbrüche und Ansprüche nicht von jenem traditionell-konservativen Milieu freimachen kann, das er als beengend empfindet und insgeheim verachtet. So lastet mehrfach Druck auf Emad, der dem Staat ebenso misstraut wie dem wohlfeilen Mitgefühl urteilsfreudiger Nachbarn und Freunde. Gefühle von Ohnmacht und Isolation verstärken eine Ehr- und Rachsucht, die ihm im Grund fremd ist.

 

Dabei sind in »The Salesman« die Weichen zur Katastrophe so unausweichlich gestellt wie in einer antiken griechischen Tragödie. Apropos Theater: Auf der Bühne proben Emad und Rana mit Freunden Arthur Millers titelgebenden »Tod eines Handlungsreisenden« — die mehrfach verfilmte Geschichte um Willy Loman, der die Schmach seiner drohenden Entlassung vor der Familie geheim hält. Das in den 40er Jahren spielende Abstiegsdrama spiegelt Emads Zustand ebenso wider wie die aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Brüche im Iran — zwischen Erdölreichtum und sanktionsbedingter Krise, religiösem Reglement und postmoderner Haltlosigkeit.

 

Man mag dem Protagonisten, der die Wünsche und Gefühle seiner Frau irgendwann hinter sich lässt, nicht in allen charakterlichen Entgleisungen folgen. Doch wie Farhadi den Niedergang eines wohlmeinenden Mannes zum moralischen Amokläufer als Thriller-Vexierspiel umsetzt, mit präzisen Dialogen, komplexen Nebensträngen, makellosen Darstellern, unaufdringlichen Symbolik, dies weist ihn erneut als unbestechlichen, stilsicheren Filmemacher aus.

 

Salesman (Forushande) F/IRN 2016, R: Asghar Farhadi, D: Shahab Hosseini, Taraneh Alidoosti, Babak Karimi, 125 Min. Start: 2.2.