»Eine Internationale der Progressiven aufbauen«

Didier Eribon hat den Deutschen die Arbeiterklasse wieder nahegebracht. In seinen Memoiren »Rückkehr nach Reims« schildert der schwule Intellektuelle die Rückkehr in das nordfranzösische Arbeitermilieu seiner Familie und seiner Armut, Gewalt und Homophobie. Im März liest Eribon auf der ­Litcologne. Pascal Jurt hat mit ihm über den Erfolg seines Buchs geredet und was wir daraus für den Kampf gegen Rechtspopulismus lernen können

Herr Eribon, Ihr Buch »Rückkehr nach Reims« ist schon 2009 in Frankreich erschienen und wurde vergangenes Jahr ins Deutsche übersetzt. Es hat sich hervorragend verkauft, viele Kommentatoren aus Kultur und Politik halten es für das Buch des Jahres 2016. Wie erklären Sie sich dieses Echo?

 

Ich glaube, es gibt zwei Gründe für das Echo, das mein Buch in Deutschland gefunden hat. Zunächst einmal beschreibe ich, wie ein großer Teil der französischen Arbeiterklasse, der früher für die Linke gestimmt hat, nach und nach anfing, rechts oder rechtsextrem zu wählen. Dies ist ein Phänomen, das sich schon in den 80er und 90er Jahren abzeichnete. Ich konnte das in meiner eigenen Familie feststellen und wollte es mit einer generellen Entwicklung in Verbindung setzen, die sich von einem Wahltermin zum anderen immer mehr erweiterte. So konnte ich eine Analyse vorlegen, und zwar mehrere Jahre, bevor sich ähnliche Entwicklungen auch in anderen Ländern, darunter Deutschland, abzeichneten. 

 

 

 

Und der zweite Grund?

 

Der zweite Grund, der mit dem ersten zusammenhängt, liegt darin, dass die Frage nach den »sozialen Klassen« aus der politischen und intellektuellen Debatte weitgehend verschwunden war. Viele Leser spürten, dass der Begriff der sozialen Klasse eine notwendige Dimension darstellt — nicht nur für das Verständnis der sozialen Welt generell, sondern auch für die Ausbildung einer individuellen Subjektivität sowie für die Ausbildung kollektiver und politischer Einstellungen. Ich habe viele Zuschriften aus Deutschland oder Österreich bekommen — wie schon vorher in Frankreich —, die mir sagten: »Ich habe mich in dem wiedererkannt, was Sie beschreiben.« Oder: »Sie haben mit ihrem Buch auch ein Portrait meiner Familie und meiner Geschichte entworfen«. Mein Buch wurde in Deutschland und in Österreich in erster Linie als ein politisches Buch gelesen. Ich möchte auf keinen Fall diese Lesart in Frage stellen. Aber »politisch« meint einen Blick auf die soziale Welt, auf Formen der Herrschaft und Formen der Unterdrückung.

 

 

 

Früher wurden Fragen nach der Klasse von kritischen Intellektuellen formuliert. Diese sind mittlerweile verschwunden. Haben Sie mit Ihrem Buch auf eine Leerstelle aufmerksam gemacht?

 

Ich würde eher sagen, es wurde eine -Evidenz von den Leser wiederentdeckt, die lange von den konservativen Debattenbeiträgen von rechts und links unterdrückt oder gar geleugnet wurde. Wenn wir das Offensichtliche, das negiert wurde, wiederentdecken, dann löst das eine Art Erleuchtung aus. Man versteht Sachen, die man vage geahnt hat, aber nicht so richtig einschätzen konnte. Ich habe dieses Buch als eine Selbstanalyse begonnen, um ausgehend von meiner Geschichte und der meiner Familie, einen Denkrahmen zu entwickeln, der eine theoretische und politische Relevanz hat. Hinter meinem ganzen Buch steht der Versuch zu verstehen, was jeder von uns ist, wie wir durch soziale Systeme und das Herkunftsmilieu seit den ersten Erfahrungen geprägt werden. In meinem letzten Buch »Prinzipien eines kritischen Denkens« widme ich mich der Frage, was es bedeutet, in der französischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine »Bastardin«, ein uneheliches Kind, zu sein: dieses Schimpfwort auf der Straße zu hören und das ganze Leben diese soziale Verurteilung zu ertragen. Meine Mutter war eine »Bastardin« und leidet seit ihrer Kindheit darunter. Auch heute noch erinnert sie sich an die Demütigungen, die sie wegen der Norm erleiden musste, die eine unverheiratete Mutter und ihr Kind an den Pranger stellt.

 

 

 

Sie bezeichnen »Rückkehr nach Reims« als »Autosozio-analyse«. In Deutschland sind solche Bücher weitgehend unbekannt. Wie ist das in Frankreich?

 

Als »Rückkehr nach Reims« vor einigen Jahren in Frankreich erschien, war die Resonanz ähnlich wie in Deutschland. Aber es gab bereits eine Tradition von soziobiografischen oder sozioanalytischen Texten bei uns, wie zum Beispiel die Romane von Annie Ernaux oder das kleine posthum veröffentlichte Buch »Ein soziologischer Selbstversuch« von Pierre Bourdieu. Wenn mein Buch dazu inspiriert, sozioanalytische Texte, Bücher, Romane, Essays oder Theaterstücke zu -schreiben, bin ich natürlich glücklich.

 

 

Viele Linke haben sich in letzter Zeit in immer stärkere Abstraktionen geflüchtet und beschwören etwa pathetisch die »Idee des Kommunismus«. Sie plädieren dagegen für die Untersuchung der sozialen Ungleichheiten im Schulsystem. Warum?

 

Die Analyse des Schulsystems, oder vielmehr der vernetzten Institutionen, die die soziale und politische Ordnung ausmachen, erscheint mir eine intellektuelle und eine politische Notwendigkeit zu sein. Das ist viel fruchtbarer als die populistischen Beschwörungen und Mythologien, die immer auch mit einem -autoritär-dogmatischem Ton von einem ziemlich konservativen Hintergrund daherkommen. Mein Buch ist weitgehend ein Buch über das Schulsystem, da haben Sie recht. Aber es ist auch ein Buch über andere Formen der Unterdrückung, der geschlechtlichen und sexuellen Unter-drückung. Eine Analyse der Formen der Herrschaft muss von den Formen des Widerstands gegen diese Herrschaft ausgehen: Man muss sich die — alten und neuen, punk-tuellen oder permanenten — Bewegungen anschauen, die mit der Kontinuität der sozialen Welt und der Politik brechen. Wir sollten erkennen, dass die Strukturen der Herrschaft keineswegs einheitlich sind und dass sie sich mit der Zeit verändern. Darum ist auch die herrschende Politik sehr heterogen. Darum erscheint mal ein bestimmtes -Problem als das wichtigste, dann aber wieder ein anderes.

 

 

 

Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung behauptet, Ihr Buch sei nicht auf Deutschland übertragbar. Das deutsche Bildungssystem sei egalitärer als das französische.

 

Konservative sagen immer und überall, dass das Schulsystem in ihrem Land demokratisch und egalitär sei. Aber das ist nirgendwo der Fall. Ein Arbeiterkind — oder mehr noch: ein Kind einer Familie, in der die Eltern arbeitslos sind, oder ein Kind aus einer Bauernfamilie —, hat weniger Chancen, den Königsweg des Schulsystems einzuschlagen, insbesondere die Hochschulausbildung, als ein Kind aus dem Bürgertum oder aus einem Professorenhaushalt. Und selbst wenn ein Kind aus den unterprivilegierten Schichten es wie durch ein Wunder auf eine privilegierte Position schafft, so bleibt die Sozio-analyse für diese Person dennoch wichtig, ja, notwendig. Schließlich fühlt sich jemand, der diesen »Aufstieg« geschafft hat, in der Welt der Privilegierten keineswegs so zu Hause wie jemand, der aus einem privilegierten Milieu stammt.

 

 

 

Warum aber wird in Bezug auf Bildung in Deutschland so penetrant das Gegenteil behauptet?

 

Das ist schlicht Ausdruck eines naiven ideologischen Abwehrsystems, das die Bedeutung der Klassenunterschiede in der Gesellschaft, in der wir leben und die jeder einzelne erfahren kann, zu leugnen versucht. Über dieses ideologische Abwehrsystem versucht man sich ein Gefühl von patriotischem Stolz zu verleihen: »Bei uns ist es besser, bei uns ist es wirklich demokratisch«. Aber die angeführten Aussagen sind sicher falsch, völlig falsch.

 

 

 

In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich mit der Faszination der Arbeiterklasse für den Front National. Können wir daraus etwas Allgemeines über den Aufstieg den Rechtspopulismus lernen?

 

Der derzeitige Aufstieg der nationalistischen und der extremen Rechten ist eine konservative Revolution, die eine alte Ordnung wiederherstellen will — gegen die progressive und demokratische Ordnung. Die Rhetorik des »weder rechts noch links«, die Verherrlichung des »Volkes« und der traditionellen volkstümlichen Werte, namentlich der »Heimat«, der »Erde«, des »Dorfes«, des »Zusammenlebens«, — gegen den »herrschenden Individualismus«, ist im Grunde gegen all das, was die individuelle Emanzipation, die Errungenschaften der kulturellen Moderne und eines Denkens ohne Grenzen ausmacht. All das ist Teil einer allgemeinen Stimmung, die einer faschistischen Stimmung ähnelt. Die wichtigste und schwierigste Aufgabe ist es, uns einzugestehen, dass die Mobilisierungen gegen diese Strömungen größtenteils den Hass derjenigen, die diese reaktionäre und rückwärtsgewandte Welle unterstützen, noch stärkt. Das macht zum Beispiel die Stärke des Trumpismus aus: Indem man ihn anklagt, spielt man ihm zu. 

 

 

 

Und wie kann man dem dann entgegentreten?

 

Widerstand dagegen darf nicht als eine Verteidigung der Privilegien durch die Privilegierten erscheinen. Alle Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass man extreme Rechte wählt, bei den Leuten am größten ist, die über einen niedrigen oder gar keinen Schulabschluss verfügen. Der Rechtspopulismus bringt anscheinend die Gefühle derer zum Ausdruck, die sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell, sprachlich und politisch enteignet fühlen. Ich weiß, dass die traditionellen politischen Parteien für die aktuelle Katastrophe eine schwere Verantwortung tragen. Aber wir müssen gegen die Internationale der -Nationalisten eine Internationale der Progressiven, eine Internationale der Internationalisten aufbauen.

 

 

 

Soll auf den Rechtspopulismus also mit einem »linken Populismus« reagiert werden?

 

Das Problem mit dem »linken« Populismus ist, dass er die Vorstellung eines organischen und homogenen »Volkes« mit dem Rechtspopulismus teilt — samt all den Gefahren, die damit verbunden sind. Eine solche Homogenisierung der Politik führt immer dazu, dass eine Reihe von Menschen nicht mehr als politisch und kulturell legitim betrachtet werden. Im Gegenteil: Ihre Probleme erscheinen dann als ein Faktor der Spaltung, was man zum Beispiel immer der feministischen Bewegung vorgeworfen hat. Die populistische Idee einer »Konvergenz« der Kämpfe vereinheitlicht, simplifiziert, schließt aus — und das zwangsläufig. Besser wäre es, die Vielfalt der Kämpfe zu unterstützen — selbst wenn die verschiedenen Kämpfe untereinander in Konflikt geraten, und das kommt oft vor. Wenn die Kämpfe konvergieren, sich synchronisieren und sich zu einem gewissen Zeitpunkt vereinen, umso besser. Aber man kann diese -»Einheit« nicht als Voraussetzung für die Existenz und die Legitimität der verschiedenen Bewegungen postulieren. Das würde bedeuten, dass man sich als jemand ausgibt, der allein politische Authentizität »zu verleihen vermag. Das würde verhindern, dass neue Bewegungen entstehen.