»Die Mittelklasse wird derzeit deklassiert«
Herr Peck, waren Sie mal Marxist? Oder sind Sie es noch?
Oh, kennen Sie nicht diesen Satz? Bewahrt mich vor den Marxisten! Das hat Marx gesagt. Und das hat mich auch bei meinem Film geleitet. Als ich in Berlin Wirtschaftsingenieurswesen studiert habe, hat mein Volkwirtschaftsprofessor Marx in zwei Sätzen abgetan. Da habe ich schon gespürt, dass da was nicht stimmen kann. Mich hat jetzt vor allem der Anfang interessiert, diese Phase, in der es darum ging, wie man die Instrumente finden kann, um die Welt zu verstehen. Dazu studiert man Marx. Ich hatte nichts mit Propaganda oder Parteidogma im Sinn, sondern suchte eine Konfrontation mit seinem Denken.
Wie kamen Sie konkret auf die Idee, einen Film über Marx und Engels vor 1848 zu machen?
Die Initiative ging von einer Redakteurin aus. Ich hätte es selber nie gewagt, das vorzuschlagen, obwohl ich darüber schon lange nachgedacht hatte. Das Konzept lief zuerst auf eine Mischform hinaus ...
... ein Dokudrama, wie es derzeit sehr beliebt ist?
In diese Richtung. Aber mir wurde bald klar, dass es ein größerer Film für ein größeres Publikum sein sollte.
Es ist auf eine sehr interessante Weise auch ein Film über Europa geworden.
Es gibt viele Parallelen zur heutigen Situation. Ja, aber das war nicht nur Europa, das war damals die Welt! Russland war Teil Europas, und auch Amerika. Es gab tatsächlich ein Europa der Revolutionäre und der Denker. Die Deutschen waren wichtig, hier entwickelte sich mit dem deutschen Idealismus eine Schule, die diese Welt in Frage gestellt hat. Später kamen die englischen Ökonomen dazu, die auf ihrem Feld die besten waren. Marx hat sich beim Besten aus Europa bedient, und er hatte ein spannendes Umfeld: Leute, die mehrere Sprachen gesprochen haben und alle konspirativen Tricks kannten.
Die Klassenanalyse war damals vergleichsweise einfach. Heute sind die Gesellschaften viel komplexer. Wo wäre heute das Proletariat?
Darüber müsste man eine große Studie schreiben. Von Marx lernen wir, dass jede Epoche ihre Analyse braucht. Man muss also zu den Zahlen gehen. Da wird man sehen, dass die Mittelklasse derzeit richtiggehend deklassiert und terrorisiert wird. Schauen wir auf Trump, der eine große Konfusion ausgelöst hat. Die Arbeiterklasse wählt einen Milliardär, einen Bilderbuchkapitalisten. Marx würde sagen: Das ist ein Effekt der Entfremdung. Wir haben viele Obdachlose, Frauen werden wieder in die zweite Reihe abgedrängt. Das alles hängt mit allem zusammen. Es braucht eine nüchterne Analyse wie bei Thomas Piketty.
Dessen Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« wurde als eine Art Remake von Marx’ »Das Kapital« gelesen, ein Buch mit sehr vielen Zahlen.
Und unbedingt lesenswert. Denn es enthält eine Synthese, um die wir nicht herumkommen. Und die uns wieder zu Marx führt.
Einer Ihrer ersten Filme beschäftigte sich mit dem afrikanischen Befreiungskampf und dem Politiker und kurzzeitigen Premierminister des Kongo Patrice Lumumba. Wie wichtig war der Marxismus damals?
Lumumba war vor allem durch die Französische Revolution inspiriert. Man hat ihn als Marxisten bezeichnet, aber so war nun einmal die Logik im Kalten Krieg: Man musste sich entscheiden zwischen Osten und Westen. Er hat sich der Sowjetunion erst zugewandt, nachdem die UNO ihn im Stich gelassen hat.
Sie haben zuletzt einen Film über den afroamerikanischen Schriftsteller James Baldwin gemacht, »I am Not Your Negro«, der für einen Oscar nominiert ist und Ende März in Deutschland ins Kino kommt. Dokumentarisches und Spielfilm gehen bei Ihnen immer wieder ineinander über.
In meiner Arbeit ging es immer zuerst um die Geschichte, und dann um die Form. Meine Arbeit bot mir immer die Chance, beide als äquivalent zu sehen. Ich möchte intelligente Filme machen, aber auch richtiges Kino. In diesem Fall ging es mir darum, Marx zum Leben zu erwecken, für die vielen Menschen, die ihn nicht kennen.
Ihr Heimatland Haiti kommt in den Medien selten vor, und wenn, dann sind es meist schlechte Nachrichten. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Situation in Haiti so hartnäckig schwierig bleibt?
Das ist das Resultat der Geschichte. Haiti war das erste Land, das die Sklaverei abgeschafft hatte. Natürlich gab es davor schon Versuche in der Antike, denken wir an Spartakus, aber das endete mit einem Massaker. In einer Welt des Imperialismus im 19. Jahrhundert war Haiti inakzeptabel. Alle Großmächte haben von dem System der Sklaverei profitiert, deswegen wurde Haiti nach der Revolution boykottiert. Das war die Strafe dafür, dass Napoleon in Haiti verloren hat. Erst Simon Bolivar hat diesen Befreiungsimpuls wieder aufgegriffen. Aber es wird noch lange dauern, bis Haiti sich Gerechtigkeit erkämpfen kann.
Raoul Peck
Peck wurde 1953 in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince geboren. Als er acht Jahre alt war, floh seine Familie vor der Diktatur Francois Duvaliers in die Demokratische Republik Kongo. Nach einer Schulausbildung im Kongo, in den USA und Frankreich studierte er zunächst Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Berlin, dann Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie. Mit seinem ersten Spielfilm »Der Mann auf dem Quai« war er im Wettbewerb von Cannes vertreten. Seitdem folgten Filme wie »Lumum-ba« (2000), »Moloch Tropical« (2009) und »Mord in Pacot«. Von 1996 bis 1997 war Peck Kulturminister Haitis. Seit 2010 ist er Präsident der staatlichen französischen Filmschule La Fémis.