Harte Schale, ethischer Kern: Die brutalistische Kirche Johannes XXIII. Foto: Dörthe Boxberg

Sensible Monster

Viele Bauten der 60er und 70er Jahre werden abgerissen. Die Kölner Initiative »Die Brutalisten« will sie erhalten

Zahllose kleine Fenster ziehen sich über die Außenhaut des Magazins der Kölner Universitätsbibliothek. Sie liegen tief in den verdreckten Laibungen, so dass sie wie Schießscharten wirken. Das Magazin ähnelt einer Trutzburg des Wissens, in der die Munition der Intelligenz lagert. Gebaut wurde es zeitgleich mit dem Hörsaalgebäude von 1964 bis 1968, die Pläne dazu stammen von dem Architekten Rolf Gutbrod (1910–1999). Das Ensemble ist typisch für den Brutalismus, einen Baustil, über den derzeit heftig gestritten wird: mal mit der Abrissbirne wie beim Parkhaus an der Cäcilienstraße am Neumarkt, mal mit dem Denkmalschutz wie bei den Uni-Gebäuden.

 

Viel Zustimmung erfahren die Betonklötze aus den 60er und 70er Jahren allerdings nicht. Zu monumental und selbstbewusst stehen sie in der Stadt, zu rau und ruppig wirkt der unverputzte Sichtbeton. Ob die Musikhochschule im Kunibertsviertel oder die Kirchen St. Gertrud an der Krefelder Straße und St. Johannes XXIII. an der Berrenrather Straße — sie wirken abweisend, grenzen sich autistisch gegen ihre Umgebung ab. 

 

Doch inzwischen melden sich immer mehr Liebhaber dieser vernachlässigten Betonmonster zu Wort. In Köln haben der Politikwissenschaftler Tobias Flessenkemper, der Stadtführer Markus Graf, die Kulturvermittlerin Anke von Heyl und der Autor Eckhard Heck die Initiative »Die Brutalisten« gegründet. Man teile die Sorge, dass »die zweite Nachkriegsmoderne in Köln durch Überformung, Renovierung oder energetische Sanierung immer weiter ins Hintertreffen rückt«, so Tobias Flessenkemper. Wenn er vom Ebertplatz redet, gerät er angesichts der verschiedenen Ebenen, Erlebnisräume und Blickachsen ins Schwärmen.

 

Dass die Anlage inzwischen vom städtebaulichen Beatmungsgerät genommen wurde, weiß Tobias Flessenkemper natürlich. Mit seiner Initiative will das Quartett Verständnis für das ungeliebte Bauerbe wecken. Vor allem durch Öffentlichkeitsarbeit: Die vier Brutalisten haben die Homepage brutalisten.de und die Facebook-Gruppe »Brutalisten im Rheinland« eingerichtet. Zum Tag des offenen Denkmals am 10. September werden sie Führungen zu den eindrucksvollsten Betonklötzen anbieten; sie haben sich mit dem »Rheinischen Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz« (RVDL) zusammengetan und wollen Fachleute wie den Autor ­Barnabas Calder nach Köln einladen. »Und drittens«, sagt Tobias Flessenkemper, »wollen wir auf die Politik einwirken, wenn es darum geht, brutalistische Bauten zu sanieren oder unter Denkmalschutz zu stellen.«

 

Einen Unterstützer dürften Flessenkemper und seine Mitstreiter im Kölner Stadtkonservator Thomas Werner finden. Nachdem sich der Denkmalschutz lange und ausgiebig mit dem reichen baulichen Erbe der 50er Jahre auseinandergesetzt habe, sagt Thomas Werner, seien jetzt rein chronologisch die beiden folgenden Jahrzehnte an der Reihe. Auch wenn Bauten wie das Magazin und das Hörsaalgebäude der Uni oder die Kirche Johannes XXIII. bereits unter Schutz stehen, sei Köln erst am Anfang. Die Denkmalwürdigkeit sei dabei weniger das Problem. »Man kann die Hauptkriterien für ein Denkmal auch auf diese Gebäude anwenden. Wir sind durchaus in der Lage, wenn eine Überformung oder der Abriss droht, eine Unterschutzstellung durchzuziehen«, sagt der Stadtkonservator.

 

Doch es fehlt derzeit nicht nur an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung des Brutalismus. Der Zahn der Zeit nagt an den Brutalos: Während bei Bauten bis zu den 50er Jahren der Fassadenputz die Bausubstanz schützt, bildet bei brutalistischen Bauten der Sichtbeton die Außenhaut des Gebäudes und muss als Denkmalwert gesichert werden. Die Betonmonster sind allerdings wahre Sensibelchen. »Je aggressiver die Witterung wird, desto problematischer ist das, Stichwort: Saurer Regen«, sagt Thomas Werner. Viele Gebäude der 70er Jahre hätten oft eine mangelhafte Überdeckung. »Da dringt die Feuchtigkeit ein, der Stahl fängt an zu rosten, und der Schaden muss dann händisch saniert werden.« Dass das trotzdem vorbildlich gelingen kann, zeigt die Kirche Johannes XXIII. an der Berrenrather Straße.

 

Die Rehabilitierung des Brutalismus ist mehr als nur die neueste Sau, die über den Facebook-Marktplatz getrieben wird: Neben den Kölner Brutalisten zeigen Initiativen wie »Ruhrmoderne« und »SOS Brutalism« sowie die geplante Ausstellung des Deutschen Architekturmuseums (DAM) in Frankfurt am Main, dass der Baustil viel mit unserer Gegenwart zu tun hat. Der Brutalismus gründet in einem Unbehagen, dass das Architekten-Paar Alison und Peter Smithson angesichts der Harmlosigkeit der 50er-Jahre-Architektur empfand. Das Duo habe für »eine Rückkehr zu den radikalen und zuweilen verstörenden Wurzeln der Moderne« plädiert, sagt Oliver Elser, der die Ausstellung am DAM kuratiert. Aus dieser zunächst eher ethischen Haltung ist dann allmählich das entstanden, was heute als brutalistischer Stil gilt — also skulpturale Bauten mit unverputzten Wänden aus Beton oder Ziegel, einem ruppigen Habitus und der Weigerung, sich in einen urbanen Kontext einzugliedern. Viele Bauten transportierten, so Oliver Elser, die gesellschaftlichen Utopien der damaligen Zeit. Gut zu erkennen ist das am Hörsaalgebäude der Kölner Universität, in dem sich die Bildungsvision der 60er Jahre niedergeschlagen hat. Stadtkonservator Thomas Werner erkennt darin »eine ganz moderne Form einer Lehranstalt, die eben nicht funktional ist, sondern eine begehbare Skulptur«. Der Fortschrittsglaube hatte nicht nur Bauherren ergriffen, sondern durchzog die gesamte Gesellschaft. »Sehr viele Bauten dieser Zeit sind im öffentlichen Auftrag entstanden: Rathäuser, Bibliotheken, Kulturbauten wie die Kunsthalle in Düsseldorf«, sagt Oliver Elser. »Dahinter steckt ein hohes Selbstbewusstsein der öffentlichen Hand.« Das galt schließlich auch für den Wohnungsbau.

 

Die Brutalisten waren der aus heutiger Sicht richtigen Überzeugung, der aufgelockerten Stadt der 50er Jahre mehr Urbanität und Dichte entgegensetzen zu müssen. Dabei entstanden blockartige oder gestapelte Großsiedlungen auf der grünen Wiese, die eine funktionale Trennung von Wohnen und Versorgung aufzuheben versuchten. Allerdings auch hier ohne direkten Bezug zum Kontext der Stadt, was sich an Wohnmaschinen wie in Chorweiler bis heute ablesen lässt. Darin liegt letztlich die Ambivalenz des brutalistischen Stils. Nichtsdestoweniger bleiben die 60er Jahre die letzte Epoche, in der ein unkritischer Fortschrittsglaube noch möglich schien — dieses Selbst­bewusstsein verkörpert sich in den Bauten des Brutalismus und macht sie aus Sicht der digitalisierten Moder­ne so attraktiv: Während das Sinnbild unserer Zeit die bis zum Überdruss transparenten Glaspaläste mit ihren vorgehängten Fassaden sind, verweigern sich die Betonmonster jeder Transparenz und Camouflage und behaupten trotzig ihren Eigensinn. Insofern erzählt die Begeisterung für den Brutalismus mehr über unsere Gegenwart als über die Vergangenheit.