Foto: Dörthe Boxberg

Die NICHTwähler

Bei den letzten NRW-Wahlen lag die Wahl­­beteiligung bei 59 Prozent: Von rund 13 Millionen Wahlberechtigten ga­­ben fünf Millionen ihre Stimme nicht ab. An der Universität Duisburg-Essen erforscht ei­ne Arbeitsgruppe die europaweit sinkende Wahlbeteiligung — mit dem Ergebnis: Ge­ra­de in Großstädten wie Köln gerät die politische Teilhabe in eine Schieflage. Die Stadtrevue sprach mit Stefan Haußner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Inte­gration und Europa­politik der Universität Duisburg-Essen

Herr Haußner, woher kommt die steigende Zahl an Nichtwählern?

 

Es gibt viele Gründe, warum Menschen nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen: Manche gehen aus Protest nicht zur Wahl, weil sie mit der Regierungspolitik unzufrieden sind. Andere Nichtwähler stammen aus politikfernen und sozial schlecht integrierten Gruppen. Ihnen wird wahlrechtlich zwar keine Hürde geboten, zur Wahl zu gehen — aber dadurch, dass sie sich in prekären Lebenssituationen befinden, gibt es für diese Menschen eine -faktische Zugangsbeschränkung: Sie haben meistens einfach andere Sorgen. Die größte Gruppe rekrutiert sich aber aus den sogenannten konjunkturellen Nichtwählern. Sie entscheiden sich situativ, ob sie zur Wahl gehen oder nicht — je nachdem, wie wichtig ihnen die Wahl erscheint.

 

 

Stimmt es, dass Nichtwählertum in Familien vererbt wird?

 

In gewisser Weise schon, denn ob man von seinem Wahlrecht Gebrauch macht, hängt sehr davon ab, wie man sozialisiert wurde. Es lässt sich beobachten, dass Wählen ein Ritual ist, das sich im Laufe des Lebens einspielen muss: Wer drei Mal zur Wahl gegangen ist, behält das mit großer Wahrscheinlichkeit auch für sein weiteres Leben bei. Auf der anderen Seite greift aber auch eine soziale Logik. Menschen, die selbst eine geringe Neigung haben, zur Wahl zu gehen, werden auch in ihren Familien und im Freundeskreis eher auf Menschen treffen, die zur Nichtwahl neigen. An die nächste Generation kann dieses Nichtwählertum weitergegeben werden. Es gibt aber auch noch andere -Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, beispielsweise die politische Bildung, die man in der Schule erfährt.

 

 

Ist es überhaupt problematisch, wenn die Wahlbeteiligung sinkt?

 

Partizipieren Menschen heute auf andere Weise po-litisch? Das politische Engagement hat in den letzten Jahrzehnten nicht zugenommen, wohl haben sich aber die Formen verändert: Viele Menschen engagieren sich heute in Vereinen oder in der Hilfe für Geflüchtete, auch der -Boykott von Marken ist stärker geworden. Sieht man aber genauer hin, wird klar, dass sich besonders die Menschen politisch engagieren, die ohnehin zur Wahl gehen. Die politische Teilhabe gerät somit in eine Schieflage. Gerade in Großstädten wie Köln wird diese Situation deutlich, wenn beispielsweise Menschen aus sozial schlecht integrierten, prekären Stadtteile wie Chorweiler und Vingst überproportional wenig an Wahlen teilnehmen, in gut situierten Stadtteilen wie Lindenthal oder Sülz die Wahlbeteiligung dagegen relativ hoch ist. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass sich Parteien in Bezirken mit geringer Wahlbeteiligung weniger engagiert zeigen.

 

 

Wie sollten Parteien mit der sinkenden Wahlbeteiligung umgehen?

 

Angesichts von finanziellen und zeitlichen Ressourcen ergibt es für Parteien Sinn, sich vorrangig in Stadtteilen zu engagieren, in denen sie ohnehin schon erfolgreich sind. Die Rechnung ist dabei ganz einfach: Wenn in einem Viertel immer wieder Plakate abgerissen werden, überlegt man sich eben dreimal, ob man dort einen Wahlkampfauftritt macht. Dennoch betrifft das Problem der sinkenden Wahlbeteiligung auch die Parteien, weil sie Stimmen einbüßen und ihre politischen Themen weniger breit in der Gesellschaft aufstellen können. Sie sollten deswegen gerade in Stadtteilen Präsenz zeigen, in denen es für sie schwierig ist und sie auch mal angefeindet werden.

 

 

Welche Parteien schöpfen derzeit am stärksten aus dem Reservoir der Nichtwähler?

 

Rechtspopulistische Parteien wie die AfD profitieren von den Nichtwählern, aber ganz bestimmt nicht so stark, wie das medial dargestellt wird. Der Anteil der AfD-Wähler, die vorher Nichtwähler waren, liegt bei 30 bis 40 Prozent. Der Rest der Stimmen kommt von Menschen, die zuvor eine andere Partei gewählt haben. Europaweit gibt es bislang noch keine konkreten Zahlen, was die Mobilisierung durch den Rechtspopulismus angeht. Was man aber weiß ist, dass es in der Mitte einer Legislaturperiode häufig zu einem sogenannten -Zwischenwahleffekt kommt: Viele Menschen wollen ihre Regierung abstrafen. Wenn es aber näher auf eine Wahl zuläuft, reguliert sich das wieder.

 

 

Gibt es Unterschiede in der Wahlbeteiligung, abhängig davon, ob es sich um eine Landtags- oder eine Bundestagswahl handelt?

 

Grundsätzlich beteiligen sich an den Wahlen für den Landtag deutlich weniger Menschen, ganz unabhängig davon, aus welcher gesellschaftlichen Schicht sie kommen. Das liegt daran, dass diese Wahlen noch immer als Wahlen zweiter Klasse wahrgenommen werden: Sie gelten im Vergleich zur Bundestagswahl einfach als nicht so wichtig. Natürlich ist das ein Trugschluss, denn gerade auf kommunaler Ebene oder im Landtag wird Politik gemacht, die die Menschen in ihrem nahen Umfeld betrifft. Trotzdem ist es noch immer so, dass beispielsweise Wahlkampfauftritte aus der Türkei als außenpolitisches Thema wahrgenommen werden, auch wenn sie in NRW oder im Saarland stattfinden.

 

 

Was bedeutet das für die Landtagswahlen in NRW?

 

Gerade aus parteipolitischer Sicht finden die Landtagswahlen in NRW in diesem Jahr unter ganz besonderen Vorzeichen statt: Schon während des Wahlkampfes wurden sie von vielen als Generalprobe für die Bundestagswahlen am 24. September stilisiert. Die Parteien haben selbst entschieden, ob sie mit dem rasanten Aufstieg der SPD und Herrn Schulz Politik machen. Nur dürfen sie sich dann nicht wundern, wenn Landesthemen bei vielen Wählern nicht ankommen — und die sich fragen, warum sie überhaupt noch zur Landtagswahl gehen sollten.  

 

 

Bei den letzten Landtagswahlen in NRW lag die Wahlbe-teiligung — auch in Köln — bei ungefähr 59 Prozent. Wie sind Ihre Prognosen für die kommenden Wahlen im Mai?

 


Im Saarland und den Niederlanden war ich mir sicher, dass die Wahlbeteiligung steigen wird, denn dort gab es sehr knappe Rennen — so etwas polarisiert den Wahlkampf und mobilisiert die Menschen, ihre Stimmen abzugeben. In NRW gibt es ein solches Kopf-an-Kopf-Rennen nicht: Die SPD hat hier noch immer einen halbwegs komfortablen Vorsprung gegenüber der CDU, das nimmt aus politischer Sicht ein bisschen den Druck raus. Dennoch sind die Themen, um die es in diesem Jahr geht, brisant. Ich bin deswegen überzeugt, dass mehr Menschen in diesem Jahr ihre Stimmen zur Landtagswahl abgeben werden.