Tante Lenchen ist tot
Man sagt, 85 Jahre seien eine lange Zeit für ein Menschenleben. Doch man ist ja nie mit etwas fertig; schon gar nicht mit einem Leben. Doch wenn man stirbt, kann man schlecht noch nebenbei anderes erledigen. Dann ist Schluss mit Multitasking. Sterben nimmt einen ganz in Beschlag. Wenn man Glück hat, kann man noch etwas sagen.
Ich weiß nicht, was Tante Lenchen noch sagen wollte. Ihre Augen verrieten, dass es wichtig sei. Was war das? »Zu sterben ist nicht so anstrengend, es sieht nur so aus.« Oder doch: »Ich möchte gern noch mal die Fotos von der Goldenen Hochzeit sehen, besonders das, wo die Kinder Stoppessen -machen.« Womöglich aber auch: »Wie sehe ich aus? Sitzt meine Frisur halbwegs?« Die Frisur war Tante Lenchen sehr wichtig. Man kriegt auf der Intensivstationen aber keine Dauerwelle, nur Kabel an den Kopf und in die Arme.
Obwohl Tante Lenchen noch etwas sagen wollte, blieb der Mund geschlossen. Irgendwann waren auch die Augen geschlossen. Und die Frisur von Tante Lenchen war wirklich fürchterlich, ganz zerzaust vom vielen Liegen.
Tante Lenchen sagte oft, sie habe so viel erlebt, sie könnte dicke Bücher schreiben. Sie ahnte nicht, dass diese Bücher niemand lesen würde. Wenn Tante Lenchen von dem Krieg und dem Hunger und von der Arbeit in der Fabrik und von ihrem Mann erzählte, den sie im Keller zwischen den Sprudel-flaschen fand, als er nach einer halben Stunde immer noch nicht wieder zurück war auf dem Sofa — dann interessierte uns das nicht, wir taten nur so. Wir stellen nämlich hohe Ansprüche, wenn wir jemandem eine Viertelstunde lang zuhören sollen. So war es auch auf der Beerdigung. Der Pfaffe sprach von ungeheuerlichen Dingen! Die meisten von uns langweilte er trotzdem.
Selbst das Wetter wirkte des-interessiert. Es regnete noch nicht mal, als sie Tante Lenchen zu ihrem Loch in der Erde trugen — in einem Sarg, der aus dem gleichen Holz geschreinert schien wie ihre häss-liche Wohnzimmerschrankwand. Tante Lenchen hätte dieses langweilige Wetter gefallen, es machte niemandem Umstände. Niemand wurde nass, niemand musste sich um seine Frisur sorgen. Tante -Lenchen sorgte sich immer um ihre Frisur. Jeden Freitagmorgen die Dauerwelle machen lassen, die immer seltsam lila schimmerte. Und ausgerechnet dann am -Nachmittag immer der Wetter-umschwung! Und die neue Frisur war im Eimer und Tante Lenchens Stimmung auch, bei jedem Wetterumschwung schmerzten die Beine. Das glaubt nur keiner, der’s nicht kennt, sagte Tante Lenchen immer.
Ich hoffe nur, dass sie im Himmel gute Friseure haben. Wenn man dem lieben Gott gegenübertritt, sollte die Frisur sitzen. Dass Tante Lenchen nun das Antlitz Gottes schaut und ihr Mann ihr nun endlich erzählen kann, wie das damals im Keller war beim Sprudelholen — davon war sie überzeugt. Es ist ja auch wahrscheinlicher, als dass da nur ein Nichts sei, das niemals jemand gesehen hat.
An all das dachte ich. Und ich hätte gerne mehr geweint, als ich konnte. Die Enttäuschung und die Scham darüber verflogen in einer Gaststätte, die ohne diesen Anlass keiner von uns je betreten hätte. Wir einigten uns wortlos darauf, wieder lauter zu reden und nicht nur über Tante Lenchen. Auf einem der Kränze hatte gestanden, man würde Tante Lenchen nie vergessen. Man sagt das so leicht.
Wir konnen gar nicht viel vergessen, wir wissen ja kaum etwas von ihr. Es hat uns einfach nicht interessiert. Unser eigenes Leben ist ja schon so voll, wir alle könnten dicke Bücher schreiben. Und es geht auch noch weiter für uns andere, noch eine ganze Zeit lang; wir sind ja noch nicht fertig. Man muss zum Beispiel Sprudel holen.