Aus Dellbrück gegen Erdoğan

Seit dem Putschversuch sind viele Journalisten aus der Türkei geflohen — unter anderem nach Köln. Celal Başlangiç hat hier den oppositionellen Nachrichten­sender Artı TV gegründet. Wie kann Journalismus im Exil funktionieren?

 

Bisweilen hilft nur bitterer Humor. Celal Başlangiç — blütenweißes Hemd, eine noch nicht angezündete Zigarette zwischen den Fingern — sitzt in einem provisorisch eingerichteten Redaktionsraum des Nachrichtensenders Artı TV und lacht. Vor einigen Wochen habe er den Politiker Cem Özdemir bei einer Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Köln sprechen hören, erzählt er. Es sei um den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft gegangen und darum, dass man als Partei künftig härter dagegen vorgehen wolle. »Es muss langweilig sein, als Journalist in Deutschland über diese Dinge zu berichten«, sagt Başlangiç mit einem Augenzwinkern. Dort, wo er herkomme, sei Journalismus dagegen reiner Nervenkitzel: »Über Pestizide berichten türkische Journalisten nie, immer nur über Chemiewaffen-Einsätze gegen Menschen.«

 

Mehr als vierzig Jahre hat Celal Başlangiç als Journalist in der Türkei gearbeitet, als politischer Reporter war er unter anderem in Istanbul, Ankara und Diyarbakır unterwegs. Zuletzt hatte er den Posten als Redaktionsleiter bei der Tageszeitung Cumhuriyet inne. Nachdem das Blatt über angebliche Munitionslieferungen des türkischen Geheimdienstes nach Syrien berichtet hatte, wurden im Oktober 2015 die Büroräume von der Staatsanwaltschaft durchsucht. Die beiden leitenden Redakteure Can Dündar und Erdem Gül wurden mehrere Wochen in Unter­suchungs­haft genommen.

 

»Bei jedem Wort, das wir geschrieben haben, hat sich die Schlinge um unseren Hals enger geschnürt«, beschreibt Celal Başlangiç seine letzten Wochen und Monate in der Türkei: »Also machen wir jetzt von hier aus weiter.« An der Wand ihm gegenüber flimmert an diesem Vormittag ein großer Fernsehbildschirm, gerade wird eine Diskussionsrunde zwischen drei Frauen live aus dem Außenstudio von Artı TV in Istanbul übertragen — auf Türkisch. Vor rund einem halben Jahr hat Başlangiç gemeinsam mit anderen Journalisten den oppositionellen Fernsehsender gegründet. Frei und ausgewogen wollen sie von Deutschland aus über die politische Situation in der Türkei berichten. Seit dem 17. März wird das Programm — sechs  bis acht Stunden jeden Tag — via Satellit in der Türkei ausgestrahlt.

 

»Wie viele Menschen unseren Kanal sehen, wissen wir nicht«, sagt Başlangiç. Die Reaktionen der Zuschauer sprächen jedoch für sich: »Wir bekommen regelmäßig Hinweise, dass wir noch eine Uhrzeit in unseren Sendungen einblenden sollen oder werden berichtigt, wenn wir einen Namen falsch ausgesprochen haben.« Für die erste Zeit haben sich Başlangiç und seine Kollegen in die Redaktionsräume des alevitischen Fernsehsenders TV10 eingemietet, auch er ist seit rund einem Jahr verboten. »Anfangs haben wir noch daran geglaubt, in der Türkei arbeiten zu können. Doch die Nischen, aus denen heraus wir berichten konnten, wurden immer enger.«

 

Parallel zu dem Fernsehprogramm betreibt die Redaktion das Online-Nachrichtenportal Artı Gerçek. Hier schreiben türkische Journalisten aus der ganzen Welt, teilweise leben sie schon seit längerem im politischen Exil in Norwegen, den Niederlanden oder Großbritannien. Celal Başlangiç ist überzeugt: »In der Türkei fehlt es an einem Mainstream-Medium, in dem jeder frei seine Meinung sagen kann.« Unterstützt wurde das Projekt von der Artı-Media-Stiftung, die ihren Sitz in den Niederlanden hat. Die Stiftung wird finanziert von wohlhabenden Unternehmern aus der Türkei, denen Meinungsvielfalt und Pressefreiheit am Herzen liegt.

 

»Unsere Redaktion ist ein Sammelbecken für eine Vielzahl an Stimmen aus unterschiedlichen politischen Lagern«, erzählt Başlangiç. »Das war von Anfang an so gewollt.« Zwar erleichtere diese Meinungsvielfalt die redaktionelle Arbeit nicht immer, doch das sei eben der Preis für eine umfassend und ausgewogen berichtende Medienlandschaft. »Wir sind alle erfahrene Journalisten, die über ein großes Netzwerk an Unterstützern in der ­Türkei verfügen«, sagt er. »Wenn irgendwo etwas passiert, rufen wir einen Kollegen an und schicken ihn los.«
Seit einem halben Jahr lebt Celal Başlangiç nun bereits in Köln. Gemeinsam mit seiner Frau, die ebenfalls eine bekannte Journalistin ist, verbringt er die Tage im Büro: Sollte jemand wissen wollen, sagt er, wie lange er in Deutschland lebt, müsse er die Stunden zusammenzählen, die er in der Woche im Auto verbringe. »In der übrigen Zeit bin ich in Gedanken in der Türkei.« Schon vor einem knappen Jahr hatten Başlangiç und seine Frau einen ersten Ausreiseversuch aus der Türkei gewagt, damals waren sie gerade einmal bis zum Flughafen in Istanbul gekommen, dann hatten türkische Beamte ihre Pässe kassiert. Einige Monate später, nachdem sie erfolgreich vor Gericht geklagt hatten, versuchten sie es erneut.

 

»Unser größtes Hobby ist es, mit ›gelernter Hoffnungslosigkeit‹ zu leben«, schrieb Bülent Mumay, ein enger Freund und Kollege von Başlangiç, vor einigen Wochen in seiner FAZ-Kolumne »Briefe aus Istanbul«. Mumay war Online-Chef der Tageszeitung Hürriyet, aus deren Dienst er im Oktober 2015 auf Druck der türkischen Regierung entlassen wurde. Die Türkei, schrieb er in seiner Kolumne, habe in den vergangenen Jahren Dinge erlebt, für die ein durchschnittliches westeuropäisches Land Jahrhunderte brauche: unzählige Wahlen, Korruptionsskandale, Straßenaufstände. Dann im April dieses Jahres das Referendum, in dessen Folge die Türkei zu einem Präsidialsystem mit umfassender Macht für Präsident Recep Tayyip Erdoğan umgebaut wird.

 

In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen nimmt die Türkei derzeit Platz 149 von 180 ein — zwischen Mexiko und der Demokratischen Republik Kongo. Seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 wurden 156 Medienhäuser geschlossen, 700 Presseausweise annuliert und mehr als 160 Journalisten festgenommen. Gegen viele liegen keine konkreten Anklagen vor, die Vorwürfe sind vage formuliert: »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« oder »Unterstützung der ­Putschisten«.

 

Auch Celal Başlangiç drohen in der Türkei 14 Jahre Haft, in wenigen Wochen wird das Gericht in Istanbul in seiner Abwesenheit ein Urteil fällen. Der Grund für die Anklage: Başlangiç war, gemeinsam mit rund hundert anderen Journalisten, einem Aufruf der PKK-nahen, prokurdischen Zeitung Özgür Gündem gefolgt und hatte dort für einen Tag symbolisch den Posten der Chefredaktion übernommen. Wenige Monate später, im August 2016, wurde die Zeitung geschlossen, gegen 60 Unterstützer hatte man bis dahin bereits Anklage erhoben. »Kimse yılmasın«, hatte Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur von Cumhuriyet, noch wenige Wochen zuvor getwittert: »Aufgeben kommt nicht in Frage.«

 

»Als Journalist in der Türkei zu arbeiten, ist wie ein Glücksspiel«, sagt Celal Başlangiç und erinnert dabei auch die vielen oppositionellen Denker und Intellektuellen, die — wie er sagt — »im Gefängnis von Silivri begraben werden«. In einem Land, das vor einem Jahr Schauplatz eines Putschversuchs wurde, richtet sich der Ausnahmezustand gegen Andersdenkende, regiert wird per Dekret. Ob sich seine Haltung gegenüber der Türkei verändert habe, seit dem Referendum? Başlangiç zuckt resigniert mit den Schultern: »Als Journalisten haben wir jetzt eine noch ­größere Verantwortung.«