Flaschenpost vom fernen Stern

Der Kölner Verleih Rapid Eye Movies entfesselt mit Wiederaufführungen von Filmen von King Hu und mit Sun Ra noch einmal die sinnliche Energie des populären Kinos

Zwei Großmeister der populären Kultur arbeiteten in den frühen 70er Jahren an ganz unterschiedlichen Ecken der Welt daran, ihre synästhetischen Visionen möglichst ungefiltert auf die Leinwand zu befördern. Zum einen der in Peking geborene Regisseur King Hu. Der hatte zwar bereits eine Reihe von Filmen abgedreht, die ihm in seiner Wahlheimat Hongkong den Ruf als ambitioniertester aller Martial-Arts-Regisseure eingebracht hatten; aber der in Taiwan produzierte »A Touch of Zen« war selbst für seine Verhältnisse etwas ganz Besonderes — eine gut dreistündige Kampfkunst-Extravaganz, die die Grenzen des Genres nicht einfach überschreitet, sondern regelrecht sprengt: Was als weitgehend dialogfreie, atmosphärische Geistergeschichte beginnt, entwickelt sich zuerst zum politischen Thriller und schließlich zu einem bewusstseinserweiternden Gesamtkunstwerk auf Buddhismus-Basis.

 

Zum anderen der in den frühen 70ern in Kalifornien ansässige — aber zeitlebens in kosmischen Maßstäben denkende — Jazz-Exzentriker Sun Ra. Der Film »Space Is the Place«, der zwischen 1972 und 1974 in Zusammenarbeit mit dem Regisseur John Coney und dem Drehbuchautor Joshua Smith entstand, war seine einzige ausführliche Begegnung mit dem Kino und ist auch sonst eine der großen Sonderfälle der Filmgeschichte; nicht zuletzt, weil er das Überschreiten von Grenzen auf noch grundsätzlichere Weise als »A Touch of Zen« zu seinem Programm erklärt. »Space Is the Place« ist gleichzeitig politisches Manifest, psychedelischer Trip, Blaxploitation-Reißer, New-Media-Experiment und natürlich Musikfilm.

 

Zwar sieht man dem Film an, dass er aus ganz unterschiedlichen Teilen besteht, ganz unterschiedliche Energien und Ambitionen vereint, aber es passt trotzdem alles zusammen. Die krude Science-Fiction-Geschichte um einen Musiker (Sun Ra selbst), der die schwarze Bevölkerung Amerikas auf einem neuen Planeten ansiedeln möchte, passt zum trashig-bunten Produktionsdesign und auch zum wenig subtilen politischen Programm von »Space Is the Place«. Die teils ziemlich brutalen Szenen in Bordellen und an Straßenecken sorgen für die notwendige realistische Erdung. Und die Musik synthetisiert das alles zu einem flow, dem man sich spätestens nicht mehr entziehen kann, wenn das Sun Ra Arkestra seinen hypnotischen Ohrwurm anstimmt: »If you find earth boring / Just the same old same thing / c’mon sign up with / Outer Spaceways Incorporated«.

 

Jetzt kann man sowohl »Space Is the Place« als auch »A Touch of Zen« im Kino wiederentdecken. Der verdienstvolle Kölner Verleih Rapid Eye Movies hat die beiden Ausnahmewerke in sein Programm aufgenommen — und zusätzlich noch King Hus Vorgängerfilm, den ebenfalls wunderschönen und filmhistorisch extrem einflussreichen Martial-Arts-Klassiker »Dragon Inn« aus dem Jahr 1967. Insbesondere im Fall von »Space Is the Place« ist das eine filmarchivarische Großtat. Weltweit ist nur noch eine einzige 35mm-Kopie verfügbar, die wurde nun digital abgetastet — aber darüber hinaus nicht aufwändig restauriert. Auf diese Weise sieht man dem Film auch in der digitalen Version noch an, dass er ein Film ist, mitsamt gelegentlicher Verunreinigungen oder Verfärbungen: ein Statement wider die hermetische Verschließung von Filmgeschichte in hochauflösender Hochglanz-Ästhetik.

 

In der braven, sauber nach Zielgruppen sortierten aktuellen Kinolandschaft erscheint jedenfalls nicht nur »Space Is the Place« wie ein Ufo, das sich aus einer anderen Galaxie auf die Erde verirrt hat. Auch die beiden King-Hu-Großtaten wirken heute, angesichts der stromlinienförmigen Superheldenfilme, die derzeit das Spektakelkinosegment beherrschen, wie eine Flaschenpost von einem fernen Stern. Hus Schwertkampf-Epen bleiben durchweg unberechenbar — die nominelle Hauptfigur in »A Touch of Zen«, der Maler Gu, ist zum Beispiel über weite Strecken ein ziemlich jämmerliches Muttersöhnchen. Ganz besonders überfordert ihn die geheimnisvolle Yang, eine junge Frau, die sich keineswegs damit begnügt, ein bloßes love interest zu sein. Auch die Natur ist in Hus Filmen nie einfach nur Hintergrund, sie drängt sich nach vorne, weht fast in den Kinosaal hinein: Die allgegenwärtigen flauschig wogenden Schilfbüschel sind im Bild oft größer als die Köpfe der Menschen. Man sieht dieser Welt auf den ersten Blick an, dass sie von Geistern und anderen magischen Wesen durchwirkt sein muss.

 

Sun Ra und King Hu haben offensichtlich nicht dieselben ästhetischen Interessen, aber sie haben in gewisser Weise denselben Gegner: die Normalität des Kino-Alltagsbetriebs. Sie widersetzen sich nicht nur den Zurichtungen des Mainstreams, sondern auch, vielleicht sogar noch mehr, den gängigen Arthouse-Kategorien — weil sie die vulgäre, sinnliche Energie des populären Kinos nicht zähmen und in gediegener Kunstsinnigkeit stillstellen, sondern entfesseln und überbieten.

 

Space Is the Place (dto) USA 1974, R: John Coney, D: Sun Ra, Barbara Deloney, Raymond Johnson, 85 Min.

 

Dragon Inn (Long men kezhan) HK 1967, R: King Hu, D: Lingfeng Shangguan, Chun Shih, Ying Bai, 111 Min.

A Touch of Zen (Xia nü) HK / TWN 1975, R: King Hu, D: Feng Hsu, Chun Shih, Ying Bai, 200 Min.