»Können wir so lassen. Bin zufrieden.«
Frage: Was ist das Besondere an Menschen mit Down-Syndrom?
Angela Fritzen: Ich bin das Besondere.
Ohrenkuss »Frau und Mann«, Dezember 2002
Die Zeitschrift Ohrenkuss hat ein besonderes Kennzeichen: Sie ist gut. Auf Qualitätspapier gedruckt, mit schönem, klarem Layout, tollen Fotos und Texten, wie man sie sonst nicht zu lesen bekommt. Die Themen reichen von Liebe über Mode und Sport bis zur Mongolei. Alle Autorinnen und Autoren des Ohrenkuss haben das so genannte Down-Syndrom.
Das Down-Syndrom gilt als geistige Behinderung. Menschen mit diesem Syndrom haben 47 statt 46 Chromosomen, ihr Chromosom 21 ist dreimal vorhanden, weshalb man auch von »Trisomie 21« spricht. In der Wissenschaft ging man lange davon aus, dass Menschen mit Down-Syndrom nicht lesen und schreiben können. Eine These, die heute niemand mehr ernsthaft vertreten kann. Wenige Minuten einer Ohrenkuss-Redaktionskonferenz überzeugen jeden Besucher vom Gegenteil.
Das Baby schläft in einem Babybett.
Manchmal Schlafen Babys in Kinderwagen oder in der Wiege.
Sie schlafen am Tag und nachts.
Sie weinen auch nachts, weil sie Durst
und Hunger haben.
Die Babys haben einen Schnuller zum Schlafen.
Sie schlafen mit einer Gans Agate im Bett.
Julian Göpel, Ohrenkuss »Baby«, Oktober 2006
Dienstagabend, ein schöner Bonner Altbau. Zehn Frauen und Männer sitzen um den großen Redaktionstisch und sprechen über die nächste Ohrenkuss-Ausgabe. Das Thema, über das sie diesmal schreiben werden, heißt: Schreiben. »Schreiben schreiben« also, wie Redakteur Marc Lohmann sagt. Mitarbeiterin Rosanna D’Ortona hat kein Down-Syndrom, sie leitet heute die Sitzung. Weil zwei Gäste da sind, gibt’s erst mal eine Vorstellungsrunde, dann beginnt die Arbeit.
»Also, was möchtet ihr den Leuten erzählen?«, fragt Rosanna D’Ortona. Sie sitzt am Computer, zum Warmwerden diktieren ihr die Redakteure je einen Satz zum Thema, manche machen sich Notizen. Die Texte werden nicht kommentiert, D’Ortona fragt nur nach, wenn sie etwas akustisch nicht verstanden hat. Die Arbeitsatmosphäre ist freundlich und konzentriert.
Die Redaktion trifft sich jede zweite Woche, um die halbjährlich erscheinenden Hefte zu planen. Alle Ohrenkuss-Texte werden von den Autoren selbst erstellt. Entweder schreiben sie sie auf, per Hand oder Computer, oder sie diktieren sie Mitarbeitern, so genannten Schreibassistenten; das ist dann jeweils zu Beginn eines Textes vermerkt. Die Artikel im Ohrenkuss werden nicht zensiert oder korrigiert; Erklärungen sind dort, wo sie nötig sind, in kursiver Schrift eingefügt.
Inzwischen ist die Redaktion bei Runde drei angekommen. »Langsam geht mir der Stoff aus«, stöhnt Svenja Giesler. Dann diktiert sie doch noch einen Satz. Sie thematisiert in ihrem Text die Arbeitsverzöge- rungen durch Besucher: »Und wenn wir Gäste haben, nämlich, so wie jetzt, dann dauert das eh noch etwas bis wir schreiben. Weil dann eben wir uns vorstellen müssen kurz. Man braucht Konzentration beim Heft.« Sie liest sich den fertigen Text noch mal in Ruhe durch – alles ok: »Können wir so lassen. Bin zufrieden.«
Wenn die Dame schwanger, muss tief einatmen und tief ausatmen.
Karoline Spielberg, diktiert, Ohrenkuss »Baby«,
Oktober 2006
1998 hat Katja de Bragança Ohrenkuss gegründet. Die promovierte Humangenetikerin traf bei ihrer Arbeit an der Bonner Universität immer wieder Menschen mit Down-Syndrom. Und stellte fest, dass sie entgegen der herrschenden Lehrmeinung manchmal lesen und schreiben konnten. »Dann hieß es jedes Mal: Ja, das ist eine Ausnahme«, erzählt sie. »Ich habe das lange akzeptiert und auch selbst geglaubt.« Ende der 80er Jahre präsentierte auf einem internationalen Kongress in Madrid eine Wissenschaftlerin einen kurzen Text, der die Geschichte von Robin Hood nacherzählte. Geschrieben hatte ihn ein Junge mit Down-Syndrom. Der witzige Stil des Textes begeisterte Katja de Bragança – und ließ sie nicht mehr los.
Zehn Jahre später half die Volkswagen-Stiftung Ohrenkuss auf die Welt: de Bragança erhielt den Zuschlag für ein Projekt, das sie mit Hilfe des Medizinhistorischen Instituts der Uni Bonn beantragt hatte. Der Titel: »Wie erleben Menschen mit Down-Syndrom die Welt, wie sieht die Welt Menschen mit Down-Syndrom – eine Gegenüber- stellung«. Im Zentrum des Projekts stand eine Zeitschrift.
Schon damals war ihr die Ästhetik wichtig, seit Beginn gestaltet die Kölner Grafikerin Maya Hässig alle Hefte. »Keiner will eine Zeitung ansehen, die grottig aussieht«, sagt de Bragança. Ohrenkuss hat keine Botschaft. Er ist die Botschaft. Die Öffentlichkeit soll »eine coole Zeitung« präsentiert bekommen, und nebenbei ein anderes Bild von Menschen mit Down-Syndrom – im wörtlichen Sinn.
Deshalb ist de Bragança die Zusammenarbeit mit guten Fotografen so wichtig. »Die medizinischen Abbildungen von Menschen mit Down-Syndrom haben oft die Ästhetik von Häftlingsbildern«, sagt sie. Fotografen, die für Ohrenkuss arbeiten, machen andere Bilder. Sie zeigen aktive Menschen. Fotografen ohne und Autoren mit Down-Syndrom beschäftigen sich gemeinsam mit dem Thema und erfahren dabei etwas voneinander. Und die Leser profitieren von dem doppelten Blick.
Als das Projekt zu Ende ging, machte de Bragança weiter. Heute trägt sich Ohrenkuss selbst – mit Hilfe von 3000 Abonnenten. Um ihre MitarbeiterInnen vernünftig zu bezahlen, hätte sie gerne die doppelte Zahl – »oder gleich 21.000, wegen Trisomie 21…« Die Ohrenkuss- Popularität jedenfalls wächst; über zehn Auszeichnungen hat das Magazin seit 1999 gewonnen, vom Ideenpreis der Körberstiftung bis zum Deutschen PR-Preis.
Das dundama ist ein Glockenspiel und wird benutzt von Mongolen und sie spielen damit musik ding dingel dongdongdadamtangel.
Svenja Giesler, Ohrenkuss »Mongolei«, Oktober 2005
Menschen mit Down-Syndrom wurden wegen ihres Aussehens früher »mongoloid« genannt. Was lag also näher, als mit einigen Redaktionsmitgliedern in die Mongolei zu fahren und einen Ohrenkuss zu dem Thema zu machen. Im Konzentrationslager Buchenwald waren die Redakteure auch schon, auf einer Recherchereise zum Ohrenkuss-Heft »Jenseits von Gut und Böse«.
Für das »Schreiben«-Heft wollen die Autorinnen und Autoren demnächst ins Gutenberg-Museum nach Mainz fahren. Die Bonner Redaktion hat inzwischen 13 Mitglieder, dazu kommen an die vierzig so genannte Fernkorrespondenten, die ihre Texte per Mail schicken, oder als Audiokassette. Von den ständigen Redakteuren hat Julian Göpel die weiteste Anreise; für die Sitzungen fährt er mit Bus und Bahn von Leichlingen bei Leverkusen bis nach Bonn. Warum Ohrenkuss? »Weil wir alle zusammen arbeiten und schreiben und zusammen Erfolge feiern.« Wenn ein neues Heft fertig ist, zum Beispiel. »Außerdem«, sagt Julian Göpel, »gibt es ein Honorar!«
Und was ist ein Ohrenkuss? Ein Kuss aufs Ohr natürlich. Der Name entstand bei einer der ersten Sitzungen, allen gefiel das Wort so gut. Eine Bedeutung hat sich die Redaktion dann später ausgedacht: Ein Ohrenkuss geht nicht da rein und da raus. Ein Ohrenkuss bleibt.