Fotos: Dörthe Boxberg

Das Symptom der Oper Teil I

Die Bühnen der Stadt am Offenbachplatz sollten saniert werden — doch alles wurde nur noch schlimmer. Die Baustelle ist im Chaos versunken, frühestens 2023 werden Oper, Schauspielhaus und Kinderoper eröffnen. Das wird 570 Millionen Euro kosten, mehr als doppelt so viel wie angekündigt. Wir haben die Baustelle besichtigt und mit Bernd Streitberger, dem Tech­nischen Betriebsleiter der Bühnen, über Zeitdruck und fehlende Kon­trollen gesprochen. Zum Schluss untersuchen wir, wie Köln mit dem Skandal umgeht und was eigentlich geschehen müsste

Der Wahnsinn lauert im Untergeschoss

Wenn man mit Bernd Streitberger, dem Technischen Betriebsleiter der Bühnen, sowie dem Architekten Remigiusz Otrzonsek die Baustelle besichtigt, erlebt man das perfekte Stationendrama.

 

Wie eine Ruine der Zukunft wirken die Bühnen Köln derzeit. Die Wände sind übersät mit Kürzeln. »1853« oder »H 327,5« waren letzte Mitteilungen der Baufirmen, bevor der Stillstand eintrat. Die Leere ist der Zustand kurz bevor die Reset-Taste gedrückt wird.

 

Seit Mai vergangenen Jahres ist Bernd Streitberger als Technischer Betriebsleiter der Bühnen im Amt. Er hat sich in mühsamer Detailarbeit durch den riesigen Komplex am Offenbachplatz gearbeitet: vier Bühnen, 2300 Räume, 66.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche. »Das entspricht etwa einem Viertel des Rheinauhafens«, sagt Streitberger. »Das verblüfft die Leute immer.« Ausgestattet mit Helm und Sicherheitsschuhen und geführt von Streitberger und dem Architekt Remigiusz Otrzonsek vom Büro HPP als Ruinenführer geht es zunächst aufs Dach des Opernhauses — bevor später der Abstieg in die Hölle folgt. Vom sogenannten Posaunengang, der die beiden Werkstatttürme miteinander verbindet und dessen Name nach Jüngstem Gericht klingt, hat man einen atemberaubenden Blick über die Stadt — und auf den gewaltigen Lüftungsblock, der denkmalverträglich der Oper aufgesetzt wurde. Acht Lüftungszentralen mit 21 Lüftungsanlagen versorgen allein die Oper. Die drei weiteren Bühnen — Schauspiel, Kleines Haus, Kinderoper — verfügen über eigene Anlagen. Aber was das bedeutet, werden wir erst später begreifen.

 

Im Fahrstuhl plaudert Streitberger gelöst mit dem Fahrstuhlführer, der Fotos vom Mitarbeiterfest an die Wand gepinnt hat. Streitberger ist ein Mann, der Vertrauen herstellt und einen Draht zu Mitarbeitern findet, ohne ins Kölsch-Kumpelhafte zu verfallen. Mit seiner Berufung sind die Bühnen ein Bauherr zum Anfassen geworden, der sein Büro nun unmittelbar auf der Baustelle hat. Der Fahrstuhl hält im ersten Untergeschoss, und dort schlägt einem der Wahnsinn direkt ins Gesicht. Einer der fünfzehn zentralen Versorgungschächte, die vertikal durchs Gebäude laufen, ist bereits zu zwei Dritteln mit Kabeln belegt. Es fehlt allerdings noch ein weiteres Drittel — und eine ummauerte Dieselleitung muss auch noch Platz darin finden. Aber wie, das weiß vermutlich nicht einmal die Firma, die das geplant hat. Schlimmer noch: Die Kabel laufen durch den Vorraum des Aufzugs, in dem aber keine Brandlasten liegen dürfen. Man könne das abmauern, meint Bernd Streitberger lakonisch. Aber dann gehe die Brandschutztür nicht mehr zu. Schilda ist nichts dagegen.

 

Die Gebäudetechnik ist aufgrund der hohen Sicherheitsverordnungen inzwischen Sorgenkind fast aller Großprojekte. Unter dem Dach der Gebäudetechnik der Bühnen laufen acht Gewerke von der Lüftungstechnik bis zur Stromversorgung zusammen, die meist beim Brandschutz kollidieren. Streitberger und sein 18-köpfiges Team haben 700 solcher Kollisionen ausgemacht: Da queren Stromkabel die Fluchtwege und laufen Sprinkler mitten durch einen Lüftungsschacht. »Das Zusammendenken hat gefehlt«, sagt Streitberger. Auch wenn er ihren Namen nicht nennt: Verantwortlich für das Planungsdesaster bei der Gebäudetechnik soll die Firma Deerns sein. Inzwischen streiten Deerns und die Stadt Köln vor Gericht um Schadensersatz in Millionenhöhe. Laut Streitberger muss die Planung weitgehend neu aufgesetzt werden. Zuständig dafür ist nun die Firma Innius, die Referenzen wie die Allianz-Arena in München oder den Frankfurter Flughafen vorweisen kann.

 

Ein Fall für eine neue Planung ist beispielsweise die Wärmerückgewinnungs-Anlage. Ein kleiner Raum im ersten Untergeschoss ist von der Decke bis auf Kopfhöhe mit silbern ummantelten Leitungen vollgestopft. Zwischen diesen Leitungen hindurch erkennt man einen sogenannten Konvektor, der die Luft erwärmt. Doch er ist derart zugebaut, dass man ihn weder bedienen noch seine Ersatzteile austauschen kann. Komplexe Bauvorhaben, erläutert Architekt Remigiusz Otrzonsek, werden durch mehrere Planungsebenen abgesichert. Doch bei den Bühnen wurden manche Planungen zu schnell durchgewinkt, andere erst nach Wochen freigegeben. Es entstand ein Kaskadeneffekt: Fehler mussten auf immer absurdere Weise ausgeglichen werden. Und so stapeln sich in einer Lüftungszentrale sechs Traversen für Kabelbäume übereinander. Die Richtlinien verbieten allerdings, Stromleitungen in Klimabereichen zu verlegen. Also wurde einfach eine Sprinkleranlage über den Traversen angebracht — Strom und Wasser? Dicht an dicht...? Streitberger erspart sich dazu jeden Sarkasmus, lässt sich auch zu keiner Schuldzuweisung hinreißen. Er hat eine Liste mit 10.000 Mängeln erstellt und jeden der 2300 Räume von einem Unternehmen mittels Laserscan dokumentieren lassen. Deshalb hängen überall Din-A4-Zettel mit je zwei schwarzen und weißen Quadraten und Kürzeln wie »3U27«. Sie markieren den Zustand des Desasters.

 

Streitberger ist kein Theatermensch, das gibt er unumwunden zu. Nicht sein Medium. Dass er trotzdem dramaturgisch mit allen Wasser gewaschen ist, zeigt der Rundgang. Die Führung durch die katastrophenbeladene Unterwelt der Bühnen ist nicht nur ein gut eingeübtes Programm, das Vertrauen, Transparenz und Tatkraft signalisieren soll, weshalb die Stadt solche Führungen ab August auch regelmäßig anbietet. Sie ist auch ein perfektes Stationendrama mit überraschender Wendung und mächtigem, hoffnungsfrohen Schlussakkord. Für den Umschlag sorgt die neue, sechs Meter hohe Fuge, die Oper, Schauspiel und Kinderoper verbindet. Die Bühnenbilder werden in Zukunft über den Neubau an der Krebsgasse angeliefert, sie rauschen dann von dort ins zweite Tiefgeschoss und werden über die Fuge auf die Bühnen verteilt. Mächtige Lagerkammern bieten Stauraum für sechs komplette Produktionen. Hier herrscht keine Enge. Lüftungsschächte hängen kleinlaut unter der Decke, Kabel sind brandsicher eingehaust. Es ist sogar Platz, die neuen sanitären Anlagen zwischenzulagern. Der Lieferant ist froh, den Kram vom Hof zu haben, und Streitberger hat wieder einen Schritt in Richtung Vertrauensbildung bei den Firmen gemacht.

 

Dann der Höhepunkt: Schauspiel, Kinderoper, Oper — in dieser Reihenfolge. Da das Haus wie ein Rohbau wirkt, fragt man sich, wie 2015 allen Ernstes ein Fertigstellungsgrad von 80 Prozent behauptet werden konnte. Nur im Bühnenbereich begreift man, wieso. Alles scheint wie unter einer Schutzfolie verborgen, die man nur noch abziehen muss. Um die Akustik im Schauspielhaus zu verbessern, wurden die Decke um 1,80 Meter heruntergezogen und die Wände neu justiert. »Wilhelm Riphahn hat das falsch konstruiert«, sagt Remigiusz Otrzonsek, der sonst von Riphahns Architektur schwärmt, selbstbewusst. Die Zahl der Plätze sinkt so von 820 auf 700 und kann durch das Vorziehen der Bühnen noch verringert werden. 

 

Vom Schauspielhaus geht es dann wieder in den Hades der Bühnen, wo die opernbegeisterten Kinder in Zukunft hausen sollen. Bei der neu entworfenen Kinder-oper hatte die Phantasie der Architekten endlich Auslauf, ohne Denkmalschutz oder Kabelkollisionen beachten zu müssen. Obwohl die Bühne mit ihren zwei Kolonnaden-Geschossen noch nicht fertig ist und die Sitzreihen der 270 Plätze noch fehlen, sieht vieles nach Endspurt aus. An der Rotunde des Zuschauerraumes mit dem geometrischen Krakelee sind vier Test-Anstriche in verschiedenen Goldtönen zu sehen. Das Treppenhaus mit seiner Doppelhelix sowie der schleusenartige Durchgang zum Foyer wirken zwar noch brutalistisch, doch man ahnt, wie die Bühnen einmal aussehen könnten. 

 

Dann der strahlende Schlussakkord: Bühne, Zuschauerraum, Foyer der Oper. Streitberger und Otrzonsek geraten ins Schwärmen. Im Foyer werde man die Originalfarben — Lindgrün, Blau, Elfenbein — wiederherstellen, und im einstigen Sekt-Foyer soll »Die Geburt des Menschen«, das Mosaik von Otto Freundlich, wieder zur Geltung kommen. Da die Akustik der Oper als zu trocken galt, wurde auch hier an den Wandelementen geschraubt. Schließlich betreten wir die 520 Quadratmeter große Opernbühne. Sie verfügt über fünf gewaltige, variable Bühnenelemente, die jeden Bühnenbildner erschauern lassen. Prunkstück ist die Untermaschinerie, die über eine Druckleitung mit sage und schreibe 180 Bar angetrieben wird. »Wenn wir state of the art sind, dann bei der Bühnentechnik«, sagt Streitberger stolz. Für einen Moment ahnt man, welche Genugtuung den Technischen Leiter der Bühnen bei der Fertigstellung erfassen wird. Doch bis dahin gilt es, den Bauhelm festzuschnallen und in den kommenden Jahren den Stürmen zu trotzen.