Dem Unauffindbaren auf der Spur
»Wann habe ich angefangen, bei der Ansicht älterer Filme zu registrieren, welche Schauspieler schon gestorben sind? (…) Wann habe ich angefangen, die Menschen auf der Straße einzuteilen in diese, die leben wollen, und jene, die leben müssen? (…) Wann habe ich angefangen, die Jahreszeiten ernst zu nehmen? Im Herbst den Anfang des Sterbens zu sehen? Mich vor dem Winter zu fürchten, wirklich zu fürchten?« Das sind die ersten Sätze von »Älter werden«. Schon mit dieser fragenden Selbstvergewisserung wird klar, dass das neue Buch von Silvia Bovenschen völlig anders ist als das, was man sonst in Deutschland zum Thema Alter zu lesen bekommt.
Der demographische Wandel hin zur angeblich vergreisenden Gesellschaft ist zum hiesigen Lieblingsschreckgespenst avanciert, seit Frank Schirrmacher mit seinem »Methusalem Komplott« (2004) zu nichts Geringerem als einem Generationenkampf Alt gegen Jung aufrief. Seitdem sind die »neuen Alten« in aller Munde, jene in die Jahre gekommenen Babyboomer, für die der Jugendkult der 60er Jahre doch eigens erfunden wurde und die nun gar nicht damit einverstanden sind, zum alten Eisen zu zählen. Auch die Berliner Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen, geboren 1946, gehört zu dieser, seit jeher auf »jung« geeichten Generation der Alt-Achtundsechziger. Doch anders als Generationskollegen wählt sie einen persönlichen Ansatz und legt auf Statistiken keinen Wert: »Ich bin froh, dass diese ganze Diskussion über die Überalterung unserer Gesellschaft schon vorher losgebrochen ist«, sagt sie, und: »Dadurch waren die harten Fakten bereits in den Raum gestellt und ich konnte mich dem zuwenden, was mich interessiert: der Innenschau des Prozesses.«
Eigentlich, erzählt Bovenschen beim Interview in ihrer Charlottenburger Altbauwohnung, habe sie ihre Notizen über das Älterwerden gar nicht veröffentlichen wollen. »Ich habe das erst nur für mich gemacht. Dieses ganz freie Schreiben über meine eigenen Erfahrungen, das war mir am Anfang sehr unheimlich.« Was bei anderen Autoren kokett klingen würde, erschließt sich bei der Adorno-Schülerin sofort: Bovenschen, die sich bisher als Wissenschaftsautorin hervorgetan hat, musste ein autobiografisches Buch ohne schützende »Begriffsnetze und Kategorie-Stangen, mit denen man letztlich immer auf der sicheren Seite steht«, als Wagnis erscheinen.
Bovenschen nahm es auf sich, weil sie ähnlich wie die Philosophin Simone de Beauvoir oder der Schriftsteller Jean Amery im »Älterwerden« vor allem eine individuelle seelische Erfahrung sieht – kein objektiv analysierbares Gesellschafts- und Körperverfalls-Phänomen. Das hat seinen Grund auch in einem schweren Leiden der Autorin: Noch als junge Frau, mit Anfang zwanzig, erkrankte die Literaturwissenschaftlerin an Multipler Sklerose. Schon bald war sie auf Krücken, später auf den Rollstuhl angewiesen. »Wenn Alter primär als körperliche Hinfälligkeit gesehen werden müsste, wäre ich früh ganz alt gewesen«, schreibt sie. »Um mein Ich nicht völlig in Behinderung aufgehen zu lassen, musste ich den Körper abgekoppelt betrachten.«
Was macht einen älter? Blendet man wie Bovenschen den physischen Faktor aus, ist die Frage nach dem Älterwerden gar nicht mehr so leicht zu beantworten. Die Antwort, so Amery bereits 1968, zeichne sich durch »Unauffindbarkeit« aus: Rein seelisch betrachtet, kann man nämlich auch als Atheist durchaus seine Zweifel haben, ob der Mensch überhaupt altert. Im Volksmund ist man so alt »wie man sich fühlt.« Das hat mit der paradoxen Art zu tun, wie sich der Mensch seiner Vergangenheit bewusst wird – verfällt er beim Erinnern doch einer trügerischen Zeitenthobenheit, die sich jeder Logik und Chronologie entzieht.
Je älter man wird, desto größer der Zwiespalt zwischen dem eigenen Zeit-Empfinden und dem allgemein gültigen Zeitraster. Nichts war Bovenschen deswegen beim Schreiben unheimlicher als ihr eigenes, zur Mythisierung neigendes »Lügengespinst« der Erinnerung, wie sie es im Gespräch nennt. »Es ist schon komisch, wie sich dieses Konstrukt organisiert«, meint sie lächelnd. »Da erinnere ich mich zum Beispiel daran, wie die Tischdecke vor dreißig Jahren aussah und habe andere Sachen, die viel wichtiger sind, längst vergessen.« Die bekennende Raucherin Bovenschen zieht nachdenklich an ihrer Pfefferminz-Zigarette. »Wahrscheinlich funktioniert das Gedächtnis nach irgendwelchen Eitelkeitskriterien, man möchte sich ja möglichst gut erhalten«.
Im Buch imitiert Bovenschen die unlogische Funktionsweise des Gedächtnisses erzählerisch, indem sie immer wieder zwischen den Themen und Zeiten hin und her springt, ihr Älterwerden ständig neu unter verschiedensten Aspekten beleuchtet. Dabei stellt sie ihre eigenen Ansichten immer wieder selbst oder durch die Meinung anderer in Frage. »Ich habe beim Schreiben immer diese Idee gehabt, dass man jeden Text gegen seine Dogmatisierung immunisieren muss«, begründet sie – für einen Moment wieder ganz dozierende Wissenschaftlerin. Dann aber setzt sie lässig hinterher: »Ich habe beim Schreiben wohl einfach Lust, mir selbst immer wieder den Teppich unter den Füßen wegzuziehen! Schließlich sollte man doch gegen keinen Menschen so misstrauisch sein wie gegen sich selbst, oder?«
Durch die permanent kreisende Bewegung versucht die Autorin sich gewissermaßen selbst bei der Selbstbeobachtung zu beobachten, ihren blinden Fleck beim Erinnern auszuschalten. Dass das letztlich ein Ding der Unmöglichkeit ist, macht ihre Erzählmethode nicht weniger aufschlussreich. »Älter Werden« führt dem Leser vor Augen, wie trügerisch und gleichzeitig unabdingbar der Blick in die Vergangenheit ist, um sich seiner Identität zu versichern. »Denn, was wären wir sonst?«, fragt Bovenschen mich am Ende des Gesprächs, um sich und mir gleich selbst die Antwort zu geben: »Nichts! Ohne Erinnerung, auch wenn es eine biografische Legende ist, wären wir nichts als Hüllen, nur Gespenster!«
Silvia Bovenschen: Älter werden.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, 155 S., 17,90 €.