Kapitalismuskritik since 1867
Die Schildergasse ist schon am Vormittag gut gefüllt. Gruppen junger Menschen tragen vollgepackte Einkaufstüten der Läden, die man in den meisten deutschen Großstädten vorfindet. In dem breiten Gebäude mit der Hausnummer 95 verkauft ein Modegeschäft seine Waren.
1842 stehen auf dieser Fläche drei Häuser. In einem davon, Hausnummer 99, geht der junge Karl Marx ein und aus. Der damals von Wohnhäusern geprägten Schildergasse steht ihre Entwicklung zur Konsummeile noch bevor. Hier befindet sich die Redaktion der Rheinischen Zeitung (RZ). Gerade noch hatte der 24 Jahre alte Marx den Wunsch einer akademischen Karriere in Bonn vorerst verworfen, nun versucht er sich im Journalismus. Marx braucht nicht lange, um zum leitenden Redakteur aufzusteigen. Die Zeitung aber hat es schwer, weil sie durch die Preußen, die im Rheinland das Sagen haben, zensiert wird.
Karl Marx, dessen Werk »Das Kapital« am 11. September 2017 seinen 150-jährigen Geburtstag feiert, lebt und wirkt zweimal in Köln: 1842/43 als Journalist und 1848/49 als Revolutionär. Die -Spuren Marx’, wohl einer der bekanntesten Bewohner der Stadt, sind jedoch an vielen Stellen verborgen. Am historischen Rathaus etwa, wo sich die Marx-Figur befindet, entsteht fast der Eindruck, man wolle den steinernen Kommunisten verstecken. Sein Kopf ist beim Blick vom Alter Markt aus und selbst vom dritten Stockwerk des Wallraf-Richartz--Museums verdeckt. Einzig aus dem Inneren des historischen Rathauses ist Marx durch ein Fenster zu sehen.
»Marx ist wirklich nicht präsent im Stadtbild«, sagt Christian Frings. Der Kölner Marx-Experte beschäftigt sich seit den 70er Jahren mit dem Thema, hält »Kapital«-Lesekreise und Seminare. Dabei ist Marx’ Aufenthalt in Köln nicht unbedeutend. »1842 ist Marx kein Kommunist, sondern bürgerlicher Demokrat«, so Frings. Für Marx sei die Zeit in Köln auch eine Abnabelung von den Junghegelianern gewesen, unter deren Einfluss er gestanden habe. Außerdem lernt er hier 1842 seinen langjährigen Weggefährten Friedrich Engels kennen.
Mit der Arbeit als Journalist bei der RZ gelangt der junge Marx schnell an die Grenzen des Erlaubten. Die preußische Regierung zensiert seit den Karlsbader Beschlüssen im Jahr 1819 Publikationen streng. Marx’ erster Artikel beschäftigt sich mit den Verhandlungen des Rheinischen Landtages über die Pressefreiheit. Dabei positioniert er sich gegen die Zensur. Zudem berichtet er über die verarmten Moselbauern sowie das Holzdiebstahl-Gesetz, mit dem die unter Armut leidende Bevölkerung für das Holzsammeln im Wald bestraft werden soll. Ein auch für Marx persönlich einfluss-reicher Artikel. »Im Jahr 1842–43, als Redakteur der ›Rheinischen Zeitung‹, kam ich zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen«, schreibt er 1859 im Vorwort der »Kritik der Politischen Ökonomie«.
»Die Rheinische Zeitung war zu Beginn kein linkes Projekt«, sagt Christian Frings. Als Gegengewicht zur katholisch geprägten Kölnischen Zeitung von DuMont ist sie zunächst von Regierenden sowie dem liberalen Bürgertum erwünscht. Die Zeitung ist durch die Gründung einer Aktiengesellschaft, in der sich diese wohlhabenden Kölner engagieren, ins Leben gerufen worden. Maßgeblich beteiligt daran ist der Frühsozialist Moses Hess. »Er hatte großen Einfluss darauf, dass Marx und Engels zum Kommunismus kamen«, sagt Frings. Hess hat ebenfalls eine Figur am Turm des Rathauses erhalten — eine weitaus sichtbarere.
Wie kann man sich Marx in seiner Zeit bei der RZ wohl vorstellen? »Er war als junger Mensch sicher sehr eitel und hat sich schnell mit Leuten überworfen«, sagt Christian Frings. Marx verlässt 1843 die Stadt, später fällt die Rheinische Zeitung der preußischen Zensur zum Opfer. Marx heiratet Jenny von Westphalen und geht ins Exil nach Paris.
175 Jahre später spielt ein Musiker an der Ecke von An Sankt Agatha und Schildergasse, auf der Kreuzung informiert eine Hilfsorganisation. Auch hier drängen sich die Massen über die Straße und in die Geschäfte. Ruhiger wird es, wenn man in die kleinere Straße An Sankt Agatha hineingeht.
In einem der Häuser, die der hohen Fassade des Kaufhofs gewichen sind, hat 1848 Wilhelm Clouth sein Gewerbe: eine Druckerei. Im ersten Stock von Hausnummer zwölf arbeiten die Redakteure Karl Marx und Friedrich Engels an einem neuen Projekt: der Neuen Rheinischen Zeitung (NRhZ).
Marx ist zu einer politisch brisanten Zeit nach Köln zurückgekehrt. Nach revolutionären Unruhen 1848 in Frankreich dankt der König ab und die zweite französische Republik wird ausgerufen. Das weckt auch im Deutschen Bund die Hoffnung auf Veränderung. Die Märzrevolution führt zu Aufständen und in der Frankfurter Paulskirche wird schließlich ein verfassunggebendes Parlament einberufen. Im Juni werden Arbeiteraufstände in Frankreich blutig niedergeschlagen.
Hoffnungsvoll erreichen auch Friedrich Engels und Karl Marx am 11. April 1848 Köln. Marx zieht zunächst in die Apostelnstraße 7. Hier wird heute einem anderen Kölner mit einer Steinfigur gedacht: Konrad Adenauer, der mit strengem Blick in die Straße schaut. In der zweiten Hälfte des Jahres 1848 zieht die Familie Marx in die Cäcilienstraße 7. Heute ist die Straße geprägt von Auto- und Bahnverkehr. Zwischen Neumarkt und Rautenstrauch-Joest-Museum, Ecke Fleischmengergasse, steht ein Gebäude, das mit seinem runden Turm über dem U-Bahn-Zugang auffällt. Hier haben sich eine Apotheke und Arztpraxen angesiedelt. Der Blick in die »Kreuter’sche Karte«, die im historischen Archiv der Stadt Köln zu finden ist, zeigt, dass das Haus mit der Nummer 7 dort stand.Einen Hinweis darauf sucht man vergebens.
Anders am Heumarkt: Nach Unstimmigkeiten mit ihrem Drucker Clouth zieht die NRhZ im Sommer 1848 samt Redaktion zum Drucker J. W. Dietz. An der Außenfassade des heutigen Cafés mit der Adresse Heumarkt 65 erinnert eine Plakette an das Wirken der NRhZ unter der Leitung von Marx. »Einem der bedeutendsten Blätter der Demokratischen Bewegung der Revolution von 1848/ 1849«, heißt es. »Sowohl ihrem Niveau wie auch ihrer Verbreitung nach war sie die bedeutendste Zeitung der Revolutionszeit«, schreibt der Marx-Engels--Forscher François Melis. Für den Historiker Karl Obermann standen Marx und die NRhZ »mit ihren Mitarbeitern [...] im Mittelpunkt der Ereignisse und revolutionären Bestrebungen und Aktivitäten in Köln«.
Der Kölner Marx-Experte Christian Frings hingegen schätzt den Einfluss sehr viel geringer ein. Er spricht von einer »heroisierenden Geschichtsschreibung«: »Marx kommt relativ spät nach Köln.« In der NRhZ schreibt Marx über Tagespolitik, hier wird aber auch seine Artikelserie »Lohnarbeit und Kapital« publiziert. Das kurz zuvor veröffentlichte »Manifest der Kommunistischen Partei« habe laut Frings in der Revolution kaum eine Rolle gespielt. »Für Marx ist es für eine kommunistische Arbeiterrevolution noch zu früh. Erst soll es eine bürgerliche Revolution gegen den Feudalismus geben, dann erst eine kommunistische.« Im Juli 1848 wird der Vorsitzende des Kölner Arbeitervereins, der Armenarzt Andreas Gottschalk, verhaftet. Marx berichtet darüber in der NRhZ. Im Kölner Arbeiterverein kann er nicht Fuß fassen. Stattdessen engagiert er sich in der Demokratischen Gesellschaft. Zudem ist er mit Gottschalk Mitglied im geheimen Bund der Kommunisten. Gottschalk verfügt über -großen Einfluss im Kölner Arbeiterverein, genauso wie Fritz und Mathilde Franziska Anneke. »Dies sind Leute der Tat«, wie Frings findet. Sie seien viel stärker für die Arbeiterinteressen eingetreten, in der Literatur jedoch zumeist eher vernachlässigt worden. »Marx musste als der große Held übrig bleiben«, sagt Frings.
Am 18. Mai 1849 wird schließlich auch die NRhZ von den preußischen Behörden verboten. Karl Marx verlässt Köln in Richtung Paris und lässt sich schließlich in London nieder. Dort arbeitet er an seinem Hauptwerk: dem »Kapital«.