Untitled

In seinem filmischen Vermächtnis nimmt uns ­Michael Glawogger ein weiteres Mal mit auf eine überwältigende Welterfahrungsreise

Ende 2013, an seinem 54. Geburtstag, brach Michael Glawogger vom Garten seines niederösterreichischen Hauses zu einer Weltreise auf, auf der er exakt ein Jahr lang die Vielfalt der Erde mit der Kamera aufzeichnen wollte. Am Ende dieser Ernte an Eindrücken hätte ein dreistündiger Film stehen sollen, mit dem er sowohl eine Bilanz seiner ersten drei Schaffensdekaden ziehen wollte, als auch einen Schluss-strich unter einen Werks-zyklus: jene Filme, in denen er be-stimmte Themen — Großstädte (»Megacities«, 1998), körperliche Schwerarbeit (»Workingman’s Death«, 2005), Prostitution (»Whores’ Glory« 2011) — global betrachtet und impressionistisch-essayistisch als Spektakel der Sinne erzählt. »Untitled« war von Anfang an der Titel dieses Projekts, da Glawogger hier zum ersten Mal eben kein Thema abarbeiten, sondern sich dem Zufall anheimfallen lassen wollte. Nach etwa einem Drittel des Weges, nach Aufnahmen in Italien, Albanien, mehreren Regionen des früheren Jugoslawiens sowie mehreren Ländern Afrikas, starb Glawogger im April 2014 an den Folgen einer falsch behandelten Malariaerkrankung in Liberia.

 

Glawoggers langjährige Schnitt-meisterin Monika Willi hat aus dem Material der ersten vier Monate eine Welterfahrungssymphonie gestaltet, welche sowohl realisiert, was sich Glawogger von dem Projekt ersehnt hatte, als auch den Verlust eines geliebt-verehrten Menschen betrauert. Letzteres geschieht — von einem emotional aufgewühlten Schlusstitel abgesehen — eher en passant. Die Meditationen über den Tod, welche das Werk durchziehen, waren immer typisch für das barocke Lebens-verständnis Glawoggers: Sein Bewusstsein für die Endlichkeit der Dinge machte jeden seiner Dokumentarfilme zu einer Feier des Augenblicks — zu Abfolgen kinematographisch fixierter Momente des eigentlich Unwiederbringlichen. Zu sehen sind: Rituale von Leben und Tod, Ekstase und Alltag, Eindrücke aus Welten, die völlig anders funktionieren als die hier gewohnten.

 

»Untitled« ist ein Traum voller Zärtlichkeit und Gewalt, eine Wahr-Werdung eines Märchens, das Glawogger seit seiner Kindheit durch den Kopf ging. Willis kongenialer Geist und ihre Seele zeigt sich darin, dass sie letztlich gegen jede künstlerische Vernunft und Wahrscheinlichkeit sich selbst in einer Art Vollendung des Glawoggerschen Projekts realisieren konnte. Und so kann man in »Untitled« ein letztes Mal das Genie des bedeutendsten österreichischen Filmschaffenden nach dem Zweiten Weltkrieg bewundern und gleichzeitig die Geburt einer neuen Regisseurin feiern.