Magersucht im Feenwald
»Ich brauche Ihre Hilfe«, postete im Frühjahr 2016 die Bloggerin Rike Drust auf die Facebook-Seite von Nestlé. »Meine Tochter (2) hat aus Versehen von den Ritter-Smarties ihres Bruders (7) gegessen. Einen blauen Smartie konnte ich ihr noch aus dem Mund fischen, aber ich schätze, sie hat bestimmt vier bis fünf gegessen. Ich habe große Angst, dass der Verzehr Einfluss auf ihre Prinzessinenhaftigkeit hat.«
Rike Drusts Beitrag verbreitete sich rasend schnell im Internet und wurde hundertfach kommentiert — und auch Nestlé reagierte prompt: Man habe mit den beiden Varianten in Blau und Rosa lediglich die Lieblingsfarben von Kindern aufgegriffen. Zu den Vorwürfen, Genderklischees zu fördern, äußerte sich das Unternehmen nicht.
Dabei wird gerade diese Frage kontrovers diskutiert. Im Netz häufen sich die Shitstorms — zuletzt im Oktober, als es um Kinderschlafanzüge von Lidl ging: »Daddy is my Superhero« stand auf der Variante für Mädchen, »Be your own Superhero« auf dem Jungenschlafanzug. Selbst auf Marketingtagungen wird kritisch über die Frage debattiert, wie Hersteller von Kleidung, Spielzeug und Lebensmitteln geschlechtsstereotype Rollenbilder bei Kindern prägen. Denn während Konsumenten zunehmend ethisches Handeln und das Einhalten gesellschaftspolitischer Standards von Unternehmen fordern, gibt es noch immer Nachholbedarf, wenn es um zeitgemäße Rollenbilder in der Vermarktung von Produkten geht.
Das zeigt auch ein Gang durch die Spielzeugabteilung. Auf der einen Seite das Spielzeug für die toughen Jungs: »Ninjago«-Kampfmaschinen, Bohrmaschinen und »Hot Wheels«-Flitzer. Und für Mädchen? »Lego Friends Backstuben«, Schmink- und Frisierköpfe und magische Feenwälder. Einen Umsatz von rund 28 Milliarden Euro prognostiziert die Werbeindustrie für 2017. Gendermarketing, also Werbung, die auf vermeintlich unterschiedliche Bedürfnisse von Mädchen und Jungen, von Frauen und Männern abzielt — macht einen großen Teil davon aus. Dahinter steht für die Herstellerfirmen eine einfache Rechnung: Ein doppelter Markt bringt auch doppelten Umsatz.
»Noch nie gab es so viel gegendertes Spielzeug wie heute«, sagt Stevie Schmiedel. Die promovierte Geschlechterforscherin an der Uni Hamburg gründete vor fünf Jahren die Initiative »Pink stinks«, die sich mittlerweile im Auftrag des Bundesfamilienministeriums gegen Sexismus in der Werbung einsetzt. Aktuelle Beschwerde-Beispiele: PVC-Fliesen werden mit nackten Frauenkörpern beworben, Atze Schröder reißt im Wurst-Werbespot von Wiesenhof einen Vergewaltigungs-Witz über Gina-Lisa Lohfink,und eine Jobbörse fragt, wann es denn nun endlich mit der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz losgehe. Seit Ende Oktober sammelt »Pink stinks« Hinweise auf diese Art von Werbung mit Hilfe ihrer App »Werbemelder.in« — auch um weiter Druck auszuüben, nachdem im Bundestag eine Entscheidung zur Gesetzesnorm gegen sexistische Werbung vertagt wurde.
Marketingstrategien sorgen dafür, dass Kinder wie Eltern das doppelte Produktsortiment als selbstverständlich hinnehmen. Getrennte Regale, Abbildungen, die Spielsachen als Mädchen- oder Jungenprodukt auszeichnen, Trennung in weiblich und männlich assoziierte Farbwelten. »Viele Eltern sehen die Kritik nicht oder sind damit überfordert, ständig gegen diese Klischees anzukämpfen«, sagt Schmiedel. Andere machten sich Sorgen, dass ihr Kind gemobbt würde, wenn es nicht den gängigen Vorstellungen vom »typischen Mädchen« oder »typischen Jungen« entspreche. Deshalb ermutigten sie ihre Kinder nicht dazu, auch mal etwas anderes auszuprobieren.
Die Berliner Bloggerin Patricia Cammarata beobachtet bereits eine »Vereinheitlichung der Kinderphantasien«, für sie der beste Beweis für den Erfolg des Gendermarketings. Auf ihrem Blog »DasNuf« beschreibt sie, wie sie auf einer Karnevalsparty in der Kita ihrer Tochter einem Heer aus Superman-Figuren und Elsa-Prinzessinnen gegenüber stand — und sich wunderte: »Warum blickt man nicht in eine bunte Schar von Astronautinnen, Cowgirls und Feuerwehrfrauen? Und warum wagt sich selbst an Karneval kaum ein Junge in die Rolle einer Prinzessin oder eines Tänzers?«
Die Beobachtung, dass Kinder sich schon früh an Rollenerwartungen orientieren, belegen auch Studien wie die der Sozialwissenschaftlerin Carol Lynn Martin von der University of Arizona. Bereits mit zwei bis drei Jahren, so Martin, hätten Kinder geschlechtsspezifische Vorstellungen verinnerlicht. In den Testversuchen bat man ihnen ein Spielzeug an, das sie zuvor noch nie gesehen hatten. Wurde es ihrem Geschlecht entsprechend gelabelt, interessierten sie sich stärker dafür.
»Kinder merken sich Bekanntes und bestätigen es«, schreibt Martin. Aus diesem Grund müssten Eltern und Erzieher aktiv Kritik üben, um Kinder für Stereotypen zu sensibilisieren. »Man sollte ihnen erklären, dass nicht alle Menschen an sie glauben oder ihr Verhalten danach ausrichten.« Das sieht auch Stevie Schmiedel so. Sie schlägt vor, Rollenklischees in der Werbung direkt anzusprechen, um Kindern zu vermitteln: Das ist nicht die reale Welt. Und auch, um deutlich zu machen: So musst du nicht sein.
Denn im Extremfall kann der Normierungsdruck der Werbung auch zu gesundheitlichen Problemen führen. Das bestätigt eine Studie, die die britische Soziologin Maria do Mar Pereira von der Universität Warwick 2014 durchführte. Bei 13-jährigen Mädchen beobachtete sie häufig erste Anzeichen von Essstörungen, außerdem vermieden sie Sport und Bewegung, weil sie befürchteten, dabei unattraktiv auszusehen. Bei gleichaltrigen Jungen zeigte sich eine Tendenz zur Gewalt: Sie ermunterten sich gegenseitig zum Schlagen oder Treten, tranken zu viel Alkohol und litten darunter, ihrer Rolle gerecht zu werden.
Doch langsam wächst der Druck auf Unternehmen: In Großbritannien setzt sich die Initiative »Let toys be toys« seit 2012 dafür ein, dass Spielsachen nicht mehr für Mädchen oder Jungen ausgezeichnet werden. 14 große Spielzeughändler, darunter auch Toys R Us, haben ihr Sortiment seitdem umgeräumt: Hier wird nach Altersgruppe, Marke oder Spielzeugtyp sortiert. In Deutschland wurde in diesem Jahr erstmals ein Negativpreis für das absurdeste Gendermarketing — »Der Goldene Zaunpfahl« — verliehen. Er ging an den Klett-Verlag und seine Buchreihe »Geschichten zum Lesenlernen«: Von Polizisten, Piraten und Außerirdischen handelt die blaue Variante für Jungs. In der pinken Version für Mädchen geht es um Prinzessinnen, Pferde — und, so verspricht es das Cover, auch um Handrührgeräte.
Text: Philippa Schindler
»Geschlecht lässt sich nicht kaufen«
Die feministische Autorin Laurie Penny über gegenderten Konsumdruck
Frau Penny, seit einigen Jahren gibt es Kampagnen für mehr gender-neutrale Kinderkleidung, auch in Großbritannien. Wie erklären Sie sich das?
Es geht dabei nicht so sehr darum, wie sich das Kind in der Kleidung fühlt. Wir behandeln Kinder anders, wenn sie ein T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bin Papas kleine Prinzessin« tragen. So lernen sie, wer und was sie sein sollen. Deshalb gibt es gerade auch eine Bewegung in Social-Justice-Kreisen, die darüber nachdenkt, wie wir mit Kindern reden.
Die Kaufhauskette John Lewis verkauft gender-neutrale Kinderkleidung, bei Harrod’s gibt es jetzt eine Spielwarenabteilung, in der die Produkte nicht nach Geschlecht sortiert sind. Hat das Auswirkungen?
Vermutlich ist das eine Masche. Es kann sein, dass dies eine Reaktion auf Elternwünsche war, aber man darf nicht vergessen, dass John Lewis eine exzellente PR-Abteilung hat. Ihre Weihnachts-Werbespots sind berühmt, alle warten jedes Jahr darauf. Meistens sind sie wahnsinnig sentimental und manipulativ. Harrod’s ist dagegen für die meisten Menschen nicht relevant. Kaum jemand kann es sich leisten, für sein Kind dort einzukaufen.
Kann man denn mit Konsum überhaupt Geschlechterrollen verändern?
Generell denke ich, dass man Gender nicht kaufen kann — auch wenn wir diese Idee komplett verinnerlicht haben. In meiner Generation ändert sich der Stellenwert von Konsum gerade, viele nehmen an Zirkeln zum Kleidertausch teil. Das gilt auch für viele Eltern. Schließlich brauchen Kinder ständig neue Klamotten, weil sie so schnell aus allem rauswachsen.
In Großbritannien sind Schuluniformen die Regel. Die Idee ist, dass die Schüler und Schülerinnen dadurch gleich behandelt werden. Gibt es dort auch geschlechtsneutrale Uniformen?
In meiner ersten politischen Kampagne ging es darum, dass Mädchen an meiner Schule auch Hosen tragen dürfen. Ich war neun Jahre alt, und wir haben leider verloren. Ich verstehe das alles nicht. Meistens sind es die Privatschulen, die besonders strenge Regeln haben. Sie kleiden ihre Schüler in diese albernen Uniformen mit Melone und Schottenkaro, um zu zeigen, wie viel Macht sie haben. Ich hatte ein Stipendium für so eine schicke Privatschule. Immerhin fiel mit der Schuluniform nicht gleich auf, dass die meisten meiner Mitschüler um einiges reicher waren als ich.
Interview: Christian Werthschulte