»Das war Trotz«
Rosy Hagemeier steckt ihren Kopf durch das eine Loch in der Plexiglasscheibe vor dem Fenster, die Hand durch das andere. »Stört es dich, wenn ich rauche?«, fragt sie und schließt das Fenster wieder. Mit ihrem Raucherfenster gelangte die 63-Jährige nach Einführung des Nichtraucherschutzgesetzes zu überregionalem Ruhm. »Das war Trotz«, sagt sie. »Wenn du 35 Jahre eine Kneipe hast, und du konntest immer rauchen bei der Arbeit…«
Zur Gastronomie findet Hagemeier durch Zufall. In Longerich geboren, fängt sie mit 14 Jahren an zu arbeiten. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin macht sie eine Ausbildung zur Fotolaborantin. Als die Freundin nach einem Dreivierteljahr an einem Blinddarmdurchbruch stirbt, kann und will Hagemeier dort nicht mehr arbeiten. Sie wechselt zum Brillen-Fabrikanten Rodenstock, wird Mitglied in der Gewerkschaft und in der DKP und arbeitet sich von der Packerin zur Leiterin des Fassungslagers und zur Betriebsratsvorsitzenden hoch. Nebenher Abendrealschule und dreimal in der Woche kellnern im Diogenes, dem »Kommunistengriechen« an der Krefelder Straße. »Da war ich gerade geschieden«, sagt sie. »Ich musste so viel arbeiten, weil ich die Scheidung bezahlen musste. Wegen böswilligen Verlassens«, sie lacht herzhaft, »aber das nur am Rande.« 1977 wird Arbeitgeber- und BDI-Präsident Hanns-Martin Schleyer von der RAF ermordet. Ein Jahr später wird dann Hagemeiers Chef Rolf Rodenstock zum BDI-Präsidenten gewählt. Auch für die wenigen Kommunisten im Betrieb zeigt der Deutsche Herbst seine Kälte. »Das Mobbing habe ich nicht ausgehalten und bin krank geworden«, sagt Rosy Hagemeier. Man habe sich auf drei Monate Gehalt und eine freiwillige Kündigung geeinigt.
Anschließend, nur wenige Monate nach Eröffnung, stößt sie zur Wundertüte, versteht sich gut mit Besitzer Christian Schmidt-Hohberg, und bald führen die beiden die Kneipe an der Pfälzer Straße zu zweit. Als ihr Kompagnon dann den Spielplatz am Ubierring eröffnet, übernimmt sie den Laden. »Das war 1985. Genau weiß ich das nicht mehr, kann auch ’83 gewesen sein.«
Danach muss sie noch einige Schicksalsschläge verkraften. Anfang der 90er Jahre brennt die Wundertüte aus, ein Schaden von 130.000 DM. Hagemeier war gerade Mutter geworden. »Da habe ich alle meine Lebensversicherungen gekündigt — weil ich ja das Kind hatte. Die Alternative war Sozialamt.«
Eine Kneipe ist für mich ein Ort, an dem man sich trifft und gemeinsame Sachen macht. Ideen entwickelt, sich austauscht, Sorgen bespricht. Oder schöne Sachen Rosy Hagemeier
Seit 2012 ist die Wundertüte nun am De-Noël-Platz in Sülz beheimatet, nachdem der Vertrag an der Pfälzer Straße nicht verlängert wurde. Wieder werden ihre Pläne durchkreuzt, denn eigentlich wollte sie die Kneipe und den mittlerweile dazugehörigen Imbiss »Pomme de Rosa« verkaufen. »200 neue Wohnungen wurden da gebaut. Gentrifizierung — in der Kneipe ist heute eine Wohnung«. Ein Jahr lang ist Rosy Hagemeier ohne eigene Wirtschaft, jobbt bei mehreren Kollegen in der Südstadt. »Damit ich nicht rauskomme«, sagt sie, zieht an ihrer Zigarette und schaut auf die Wände mit dem auf Stoff gemalten großen Porträt von David Bowie, den Zeichnungen von Herman Brood und dem signierten Poster von AnnenMayKantereit, die hier ihr erstes Konzert gaben. Sie winkt ab. »Habe ich aber alles überwunden — ich bin ja wieder da.«
An der Pfälzer Straße sei sie mit den Leuten gewachsen, erzählt sie und zündet sich eine weitere Zigarette an. »Wenn ich da gesagt habe, komm lass uns mal eine Karnevalssitzung machen, dann haben wir das gemacht.« Die »Wundersitzung« gab es ganze 13 Jahre lang — unter anderem. Das Veranstaltungsprogramm ist lang und vielfältig. Eine Modenschau in alten Klamotten etwa oder eine »Bierwahl«, als die Kneipe brauereifrei wurde: mit fünf Bieren, einem Wahlredner für jede Sorte und zwei Anwältinnen zur Bewachung der Wahlurne.
Auch mit den Menschen am De-Noël-Platz kommt sie ganz gut klar. Ein paar Dinge macht sie aber anders als ihr Vorgänger. Fußball ist da so ein Thema. Pokale kommen ihr nicht in die Bude. Und außer WM und EM werden keine Spiele gezeigt, weil man sonst ja fast jeden Tag Fußball zeigen müsste. »Eine Kneipe ist für mich ein Ort, an dem man sich trifft und gemeinsame Sachen macht. Außer Saufen, versteht sich. Wo man Ideen entwickelt, sich austauscht, Sorgen bespricht oder schöne Sachen.«
Konzerte, Table-Quiz, Sülzer Mitsingabende und die Offene Bühne gehören gegenwärtig zum Wundertüten-Programm. Vor allem die Musik ist Rosy Hagemeier wichtig — vielleicht wegen der eigenen Ambitionen. »K14«, damals das Politische Kommissariat der Kölner Polizei, lautete der Name ihrer Punkband. »Kreislauf, Kreislauf / Alles dreht sich rum um mich / Und ich find die Wege nicht«, singt sie leise und sagt dann: »Kannste heute auch noch bringen.«
Pläne für die Zukunft gibt es bereits. Aber erst einmal geht es noch fünf Jahre weiter mit der Wundertüte. »Ich hoffe, die schaffe ich noch. Ich habe ja ein kaputtes Knie... aber ganz ohne Kneipe?«, Rosy Hagemeier lacht und über legt kurz. »Nee, kann ich wahrscheinlich nicht.«