Maß und Mitte
Wenn ich auf einen Fußballplatz gucke, weiß ich, wie sich der Held in einem Verschwörungsthriller fühlt. Alle halten ihn für übergeschnappt, doch er kennt die Wahrheit. Derzeit schauen »Experten« bei 63 WM-Spielen insgesamt 5670 Minuten lang auf russische Fußballplätze und sehen den Skandal nicht. Oder wollen sie ihn nicht sehen? Der Mittelkreis ist zu groß.
Man muss nicht nachmessen, sie ließen es ohnehin nicht zu. Aber selbst sie können die Mittelkreis-Lüge nicht verbergen. Gebt endlich auf! Wie leicht zu erkennen ist, wird der Rasen stets so gemäht, dass sich hell- und dunkelgrüne Streifen abwechseln. Sie sind jeweils 5,50 Meter breit. Auch das muss man nicht messen, weil zwischen Torlinie und Elfmeterpunkt genau zwei Streifen passen. 11 : 2 = 5,5. Mathematik lässt sich nicht korrumpieren.
Zugleich ist zu sehen, dass vom Zentrum des Mittelkreises, dem Anstoßpunkt, bis zum Rand ebenfalls zwei Streifen verlaufen, also auch elf Meter. Die Regel aber besagt, dass ein Mittelkreis einen Radius von 9,15 Meter besitzen muss. Warum werden meine Recherchen totgeschwiegen?
Die einzige, obzwar tolldreiste, aber mögliche Erklärung wäre, dass die Streifen unterschiedlich breit sind. Wie lachhaft ist das? Glauben die Herren Putin und Infantino, sich dermaßen billig aus der Verantwortung stehlen zu können? Sind dann womöglich auch die Tore unterschiedlich breit, damit Russland Weltmeister wird? Zumal der Platz mit den 20 Querstreifen dann weniger als 110 Meter lang wäre, der Norm für internationale Spiele.
Der Weltfußballverband steht schon lange in der Kritik, wegen Korruption, der liebedienerischen Nähe zu Despoten, und weil er bei Doping wegschaut. Der Verband ist aber offensichtlich nicht nur moralisch abgrundtief verkommen, sondern zudem völlig wahnsinnig.
Ein Hoffnungsschimmer: Verbirgt sich hinter dem zu großen Mittelkreis ein Komplott der Platzwarte, jenen, die für die Gestaltung von Tor- und Seitenauslinien, Straf- und Torraum und nicht zuletzt des Mittelkreises zuständig sind? Dachten sie subversiv-ästhetisch? Weil es schöner aussieht, wenn der Rand eines hell- oder dunkelgrün geschorenen Rasenstreifens als Tangente des Mittelkreises abschließt? Ein stiller Triumph der Kultur über die kalte Bürokratie des Reglements? Ohnehin waren es ja die Platzwarte, die seit den 90er Jahren mit neuen Schermethoden die Fußballfelder von der grünen Monochromie befreiten. Es gab schon Schachbrett- und Rautenmuster bei internationalen Partien! In unteren Klassen tätige Platzwarte rechten die Ascheplätze gleichfalls in aufwändigen Dessins. Ein Kreisligaspiel zwischen Urbach und Westhoven würde ansehnlicher, wenn auf dem Platz die Nazca-Linien nachempfunden wären.
Auf internationaler Ebene ließen sich landschaftsgärtnerische Akzente setzen. Warum nicht den ohnehin stark beanspruchten Torraum mit kleinwüchsigen Bodendeckern oder robusten Moosen bepflanzen? Statt Eckfähnchen eigneten sich farbenfrohe Stauden oder bei Endspielen floristische Arrangements, um die Bedeutung des Anlasses zu unterstreichen. Der sporttechnische Begriff »Saison« ließe sich so auf seinen botanischen Aspekt zurückführen.
Oma Porz schaut gern die Tour de France — wegen der schönen Landschaftsbilder! Radsport interessiert Oma Porz gar nicht. Wasserball ist in Deutschland eine Randsportart. Sicher könnten Zierfische und Seerosen im Bassin die Attraktivität erhöhen. Immer, wenn ich mit Oma Porz Minigolf spiele, interessiert sie sich mehr für die Blumenrabatten am Rande des Parcours. Entrüstet besteht sie auf einer Gießkanne, wenn der Zustand allzu bedenklich ist. Wer fände den Mut, darauf zu bestehen, dass der Mittelkreis bei der WM neu abzuzirkeln sei?