Eine Botschaft für die Zukunft
Es sollte ein lauter Protest werden, aber er begann mit einer Minute Stille. Vor dem Oberlandesgericht in München halten Aktivisten der Kampagne »Kein Schlussstrich« Zeichnungen mit den Gesichtern der Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in die Höhe. »Wir trauern um …«, sagt eine Sprecherin auf der Bühne der Kundgebung, dann berichtet sie aus dem Leben jedes einzelnen der zehn Toten: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Es ist der 11. Juni 2018 – »Tag X«, wie ihn die Aktivisten nennen –, der Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess.
»Das Urteil wird nicht zu unserer Zufriedenheit ausfallen«, erklärt ein Mitglied der Initiative »Keupstraße ist überall« am Vorabend. Es sind nicht seine Worte, sondern die von Arif S., der auf der Keupstraße ein Einzelhandelsgeschäft führt. Fünf Jahre lang haben sich bei »Keupstraße ist überall« linke Aktivisten mit Bewohnern der Straße in Mülheim getroffen. Sie haben eine Filmreihe in türkischen Restaurants veranstaltet, haben auf Podien in ganz Deutschland gesessen und waren dabei, als im vergangenen Sommer das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« im Schauspiel Köln stattfand. Ihrer Meinung nach hat der NSU einen größeren Unterstützerkreis in der deutschen Neonazi-Szene, als die vier Personen, die in München wegen der Unterstützung der terroristischen Vereinigung vor Gericht stehen. Immer wieder sind sie deshalb zum NSU-Prozess gefahren – so auch diesmal. Als Nebenkläger ist Arif S. schon einen Tag vorher nach München gereist, dennoch hat er ein Grußwort für die rund zwanzig Besucher aus Köln geschrieben: »Das Wichtige ist, dass wir uns gemeinsam dafür einsetzen, dass das Thema NSU nicht mit diesem Urteil beendet wird.«
Morgens um sieben Uhr kommt der Bus aus der Keupstraße in München an. Erstes Ziel: Plätze in der Schlange vor dem Oberlandesgericht reservieren, damit die Angehörigen der Keupstraßenanwohner auch in den Gerichtssaal können. Aber die Schlange ist schon jetzt zu lang, um eine Chance zu haben. Sehr weit vorne steht stattdessen der verurteilte Rechtsterrorist Karl-Heinz Statzberger aus München mit ein paar Kameraden. Sie werden während der Urteilsverkündung auf der Tribüne im Gerichtssaal sitzen.
Für die Prozessteilnehmer gibt es zwei Eingänge: Wer Anonymität haben will, benutzt den hinteren, für den Rest beginnt vor dem Gebäude ein eingeprobtes Ritual. Sobald jemand auch nur entfernt türkeistämmig aussieht, stürzen sich Fotografen, Kamerapersonal und Korrespondenten auf die Person: Sie könnte ja ein NSU-Opfer sein. Trägt jemand Aktentasche, Anzug und einen frischen Haarschnitt wird er ebenfalls im Bild eingefangen. Als Arif S. und Kemal G. von der Keupstraße gemeinsam mit dem Anwalt Axel Hofmann über den Vorplatz schreiten, nimmt kaum jemand von ihnen Notiz. Sie tragen Sneakers, Jeans und Hemd – zu unauffällig für die Kameras.
Wie groß war der Kreis der Unterstützer tatsächlich?
Der Beginn der Verhandlung verzögert sich, aber um kurz vor zehn wird das Urteil verkündet. Beate Zschäpe erhält lebenslang bei besonderer Schwere der Schuld. Der ehemalige NPD-Funktionär Ralf Wohlleben kommt mit zehn Jahren davon, obwohl er dem NSU eine Schusswaffe organisierte und laut Bundesanwaltschaft von den Morden wusste. Für André Eminger, der für die NSU-Terroristen eine Wohnung anmietete und ihnen Dokumente organisierte, hatte sie eine Haftstrafe von zwölf Jahren für Beihilfe zum Mord und der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gefordert. Aber das Gericht sieht nur letzteres als bewiesen an, Eminger erhält eine Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Gegen ihn und Wohlleben werden bald darauf die Haftbefehle aufgehoben. Vor dem Gericht kommen laute Buhrufe auf. »Das Gericht möchte den Unterstützerkreis viel kleiner machen, als er war«, sagt Nebenklage-Anwalt Alexander Hoffmann, der in den niedrigen Haftstrafen eine Verschleierungstaktik des Gerichts sieht: Wenn schon Wohlleben und Eminger, also Personen aus dem engsten Umfeld des NSU, nichts von den Morden gewusst hätten, könne es auch keine anderen Mitwisser gegeben haben, so die Logik des Gerichts. »Nazis können losziehen und über fast zwei Jahrzehnte bewaffnete Personen unterstützen und gehen mit zwei bis drei Jahren da raus«, erklärt er frustriert. »Das ist eine Aufforderung.«
Die Nazis geben ihm Recht. Als das Urteil für André Eminger verkündet wird, applaudieren sie auf der Zuschauertribüne des Oberlandesgerichts. Nicht weit von ihnen entfernt muss die Schwester des ermordeten Hamburger Lebensmittelhändlers Süleyman Taşköprü sitzen. Weil sie keine offizielle Nebenklägerin ist, darf sie nicht bei ihrer Familie im Gerichtssaal sein. Ihr Bruder Osman hat den Prozess nur insgesamt dreimal besucht – es war zu schmerzhaft. Auch heute empfinden viele Angehörige der NSU-Opfer den Besuch als traumatisch. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl trägt ausführlich und mit vielen juristischen Details aus seiner Urteilsbegründung vor. Als er beim Mord an Halit Yozgat aus Kassel ankommt, der 2006 im Beisein von Andreas Temme, einem Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, in seinem Internetcafé per Kopfschuss hingerichtet wurde, bricht es aus seinem Vater Ismail heraus: »Mein Gott, mein Gott«, ruft er auf Türkisch. Richter Götzl ermahnt ihn: »Ich möchte keine weiteren Störungen haben.« »Ich bin erschüttert«, sagt Arif S. vor dem Gerichtsgebäude über das Urteil. »Am Anfang hatte ich noch Hoffnung, aber mit jedem Prozessbesuch ist diese Hoffnung weniger geworden. Jetzt ist sie ganz verschwunden.«
»Wer kann nun mit Sicherheit sagen, dass es nicht noch mal passieren wird?« — Mitat Özdemir
Auch auf der Keupstraße selbst gab es eine Gedenkfeier. 100 Menschen sind gekommen, haben an einer Schweigeminute teilgenommen und das Urteil abgewartet. »Die Urteilsverkündung wurde hier mit großer Enttäuschung aufgenommen«, erzählt Mitat Özdemir am Telefon. Er betreibt einen Kiosk und war viele Jahre Vorsitzender der IG Keupstraße. Jetzt treibt ihn die Sorge um, weitere Unterstützer des NSU könnten unbehelligt auf freiem Fuß bleiben. »Wer kann nun mit Sicherheit sagen, dass es nicht noch mal passieren wird? Die Angst ist noch da.«
Und diese Angst lähmt. Vor dem Gerichtsgebäude in München mischt sie sich mit Enttäuschung und Trotz. Das bekommt auch die Kölner Indie-Band Kent Coda zu spüren, die von der Initiative »Keupstraße ist überall« eingeladen wurde, in München zu spielen. »Es gibt natürlich eine gewisse Freude, dass ähnlich denkende Menschen zusammenkommen und Solidarität zeigen, aber andererseits sehr viel Trauer, sehr viel Frust«, beschreibt Sänger Öğünç Kardelen seine Eindrücke. »Ganz ehrlich: Wir waren nicht so ganz sicher, mit welchem Gefühl wir unsere Lieder spielen sollten.« Nach ihrem Auftritt sitzen er und seine Bandkollegen auf dem Asphalt und hören den Redebeiträgen der vielen Initiativen zu, die heute nach München gekommen sind. Sie alle begreifen den NSU als Element rassistischer Kriminalität, die mit der Wiedervereinigung einen Aufschwung genommen hat und sich aktuell in den Übergriffen auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte zeigt. Deshalb haben sie die Anwälte der Nebenklage unterstützt, sind in Antifa-Archiven auf die Suche nach Material gegangen, haben vor Ort nach Zeugen gesucht.
»Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht aller Betroffenen« — Ayşe Güleç
»Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht aller Betroffenen und aller, die in den verschiedenen Initiativen aktiv sind«, sagt Ayşe Güleç von der Kasseler »Initiative 6. April«, die die Angehörigen des 2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat unterstützt. »Wir Initiativen müssen weiter um Aufklärung ringen. Wir können jetzt nur noch den zivilgesellschaftlichen Kräften vertrauen, die weiter um Wahrheit kämpfen werden.«
»Die Initiativen haben eine wahnsinnig wichtige Rolle im Prozess gespielt« — Mehmet Daimagüler
Auch der Anwalt Mehmet Daimagüler mischt sich unter das Publikum. Er setzt sich zu einer Gruppe Aktivisten und will einen Tweet posten. »Wie findet ihr ›Ein guter Tag für Nazis?‹« fragt er in die Runde. Gelächter. Der Tweet bekommt 174 Likes. »Die Initiativen haben eine wahnsinnig wichtige Rolle im Prozess gespielt«, erklärt Daimagüler im Gespräch. »Sie haben uns bei der Recherche unterstützt und für Öffentlichkeit gesorgt.« Fünf seiner Mandanten lebten mittlerweile in der Türkei und hätten sich nur durch die türkischsprachigen Mitschriften der Initiative »NSU-Watch« über das Verfahren informiert, die jeden Prozesstag protokolliert hat. »Und dann gibt es noch etwas Persönliches: Man fühlt sich in einem solchen Verfahren oft alleine«, fährt Daimagüler fort. »Das Gefühl der Solidarität durch die Initiativen hat viel Kraft gegeben – für mich und für meine Mandanten.«
Im Sommer 2017 haben viele dieser Initiativen gemeinsam das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« im Kölner Schauspiel organisiert. Die »Initiative 6. April« und »Keupstraße ist überall« haben dafür mit anderen Initiativen, die sich mit Betroffenen rassistischer Gewalt organisieren, wie dem »Freundeskreis in Gedenken an den rassistischen Brandanschlag von Mölln« oder der »Oury-Jalloh-Initiative«, zusammengearbeitet. »Das Tribunal in Köln war für mich ein Zeichen, wie Aufarbeitung eigentlich stattfinden muss«, sagt Tahir Della von der »Initiative Schwarze Menschen in Deutschland«. »Mit den Betroffenen, mit den Angehörigen, mit denen, die Opfer rassistischer Gewalt geworden sind. Der NSU-Prozess hat hingegen gezeigt, wie es nicht funktioniert.«
In München tragen rund ein Dutzend Mitwirkende Teile der Anklageschrift des NSU-Tribunals noch einmal laut vor: Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme wird von ihnen ebenso angeklagt wie Neonazis oder Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihr Versprechen auf Aufklärung nicht eingelöst habe. »Heute kommt noch ein Name dazu«, sagt ein Aktivist: »Wir klagen an: Manfred Götzl, Richter.«
Im Anschluss hält Kemal G. eine Rede. Wie viele Mitglieder der Keupstraßen-Initiative hat er sich im Laufe des Prozesses verändert. Zu Beginn musste er noch darum kämpfen, endlich als Terroropfer Gehör zu finden, heute steht er vor ein paar Hundert Menschen und redet frei: »Zum Teufel mit ihrer Gerechtigkeit. Für uns hat sie keinen Wert. Sie versuchen, mit ihrem Urteil einen Schlussstrich zu ziehen, aber wir werden das nicht zulassen.« Lauter Applaus.
Der Platz vor dem Gericht füllt sich, es ist mittlerweile später Nachmittag. Die Rapper der Antilopen Gang spielen ihren Song »Beate Zschäpe hört U2« über die Entstehung des Rechtsterrorismus aus dem deutschen Kleinbürgertum. Vorher haben sie ihr Publikum aufgefordert, den Mittelfinger in Richtung des Gerichtsgebäudes zu zeigen. Das lässt sich niemand zweimal sagen.
»Wir waren nach diesem Urteil sehr erleichtert, auf der Demonstration laufen zu können und so nicht alleine mit diesem Urteil sein zu müssen« Antonia von der Behrens, Anwältin der Angehörigen von Mehmet Kubaşık
Als sich eine Stunde später der Demonstrationszug in Bewegung setzt, sind 5000 Menschen zusammengekommen: Antifa-Aktivisten, Bürger, Mitglieder linker Parteien. Aber die erste Reihe der Demonstration ist für die Angehörigen und Opfer reserviert: Arif S. und Kemal G., Adile, Semiya und Abdulkerim Şimşek, Elif und Gamze Kubaşık. Sie tragen die Zeichnungen der Gesichter ihrer Familienmitglieder in der Hand. Neben anderen Vertretern der Nebenklage nimmt auch die Berliner Anwältin Antonia von der Behrens an der Demonstration teil. Sie vertritt Angehörige des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubaşık. »Wir – die Familie und ihre Anwälte – waren nach diesem Urteil sehr erleichtert, auf der Demonstration laufen zu können und so nicht alleine mit diesem Urteil sein zu müssen.«
Die Demo zieht durch das migrantisch geprägte Viertel um den Münchener Hauptbahnhof. Dort bleiben die Menschen stehen und filmen, viele freuen sich. Dann geht es am Stachus vorbei in Richtung Odeonsplatz, direkt an der Residenz. Am Ende sind die Gesichter der NSU-Opfer in Richtung des bayerischen Innenministeriums gerichtet, zuständig für Polizei und Verfassungsschutz. Es ist eine Botschaft für die Zukunft: Wir geben nicht auf!
Keupstraße ist überall
Die Initiative setzt sich mit Betroffenen des Kölner Nagelbombenanschlags für die Aufklärung der NSU-Mord- und Anschlagserie ein.
keupstrasse-ist-ueberall.de
NSU-Watch
Seit Beginn begleitet NSU-Watch den NSU-Prozess, veröffentlicht Prozessberichte und Rechercheergebnisse.
nsu-watch.info
Tribunal »NSU-Komplex auflösen«
Das antirassistische Bündnis veranstaltete 2017 mit Betroffenen und Überlebenden ein fünftägiges Tribunal und verfasste eine eigene Anklageschrift.
nsu-tribunal.de