Da liegt was im ARGEn
Gefälschte Schlitzwandprotokolle, falsch sitzende Bewehrungskörbe, abgerissene Fugenbleche — nach knapp dreistündigen Erläuterungen technischer Details sackt manchem Zuhörer im Landgericht schon der Kopf weg. Doch dann wendet sich der Vorsitzende Richter Michael Greve dem Angeklagten Manfred A. zu und zählt auf, welch verheerende Fehler er begangen habe. Manfred A. sei dabei gewesen, als Bauarbeiter an der U-Bahnbaustelle am Waidmarkt auf ein Hindernis stießen. »Sie waren da und haben Fotos gemacht. Es hätte Ihnen auffallen müssen!« Als Manfred A. etwas entgegnen will, herrscht ihn der Richter an: »Nein! Sie hatten lange genug Zeit, etwas zu sagen!« Es fördert auch nicht die Atmosphäre zwischen Richter und Angeklagtem, als wenig später das Handy von Manfred A. schrillt und erst sein Verteidiger es schafft, es auszuschalten.
Manfred A. hat als Angestellter der KVB die Bauarbeiten der Nord-Süd-U-Bahn überwacht. Als einziger von vier Angeklagten wird er im Strafprozess um das am 3. März eingestürzte Stadtarchiv schuldig gesprochen. Bei dem Unglück starben zwei Menschen, das Gedächtnis der Stadt verschwand im Boden. Mehr als neun Jahre danach verurteilt ihn das Landgericht Köln am 12. Oktober wegen fahrlässiger Tötung zu einer Bewährungsstrafe von acht Monaten. Seine ebenfalls angeklagte Vorgesetzte bei der KVB wird freigesprochen, ihr sei kein konkretes Fehlverhalten nachzuweisen. Baggerfahrer und Polier, die beim Bau einer Schlitzwand pfuschten und damit laut Gericht den Einsturz verursachten, waren zu krank, um weiter am Prozess teilzunehmen.
Auch zwei Bauleiter der Arbeitsgemeinschaft der am U-Bahnbau beteiligten Baufirmen (Arge) kamen mit einem Freispruch davon. Zwar bescheinigt der Richter auch ihnen Versäumnisse, doch konnte das Gericht nicht nachweisen, dass diese maßgeblich für den Einsturz waren. Ein Arge-Sprecher äußerte sogleich seine Zufriedenheit mit dem Urteil.
Es ist also, mit Ausnahme eines untergeordneten KVB-Angestellten, kein Schuldiger auszumachen. Der Richter sagt, ihm sei klar, dass die milden Urteile auf Unverständnis stoßen könnten, doch dies könne nicht Maßstab der Entscheidung sein. Dann nimmt er weitere Kritik vorweg: Viele Bürger seien an das Gericht herangetreten wegen einer außer Kontrolle geratenen Wasserhaltung auf der Baustelle. Wegen Problemen mit ansteigendem Grundwasser habe es tatsächlich viel mehr Brunnen gegeben als genehmigt. »Das ist nicht schön, aber es hätte auch nichts geändert, wenn sie genehmigt worden wären.« Mit dem Einsturz habe dies nichts zu tun.
Der Richter kam auch auf die widersinnige Aufgabenverteilung bei der Bauüberwachung zu sprechen. Eigentlich lag die Aufsicht bei der Bezirksregierung Düsseldorf, doch wegen Personalmangels delegierte diese die Verantwortung an die Stadt Köln. Dort war das Tiefbaudezernat aber aufgelöst worden, und die Mitarbeiter zur KVB gewechselt. Diese überwachte sich als Bauherrin also selbst. Dagegen spreche einiges, so der Richter, »aber wir haben darüber nicht zu entscheiden.« Wie ernst diese Kontrolle genommen wurde, zeigt der Umstand, dass es in den Bauprotokollen zwar eine Spalte für die Unterschriften aller Bauleiter gab. Für die Unterschrift der zuständigen Bauüberwacherin von der KVB war aber kein Platz vorgesehen.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft hat Revision eingelegt für die beiden angeklagten Bauleiter, für die sie Bewährungsstrafen gefordert hatte. Auch der verurteilte Manfred A. will in Revision gehen. Zugleich läuft noch ein weiterer Strafprozess gegen einen am U-Bahn-Bau beteiligten Oberbauleiter.
Im kommenden Jahr könnte zudem ein Zivilprozess beginnen, den die Stadt gegen die Baufirmen angestrengt hat. Auf 1,3 Mrd. Euro beziffert die Stadt den Schaden, der durch den Einsturz entstanden ist. Dass im Strafprozess ausgerechnet nur ein KVB-Mitarbeiter verurteilt worden ist, könnte die Ansprüche der Stadt gegenüber der Arge mindern. Die Baufirmen beharren noch immer darauf, dass nicht ein Baufehler, sondern ein hydraulischer Grundbruch — eine Art Naturereignis — für den Einsturz verantwortlich ist. Deshalb kann es mit dem Weiterbau der Nord-Süd-Bahn auch so schnell nicht weitergehen. Weil jederzeit neue Untersuchungen an der Einsturzstelle beauftragt werden könnten, darf diese nicht saniert werden. Ansprüche im Zivilprozess können nicht verjähren. Es kann also noch viele Jahre dauern, bis die Lücke an der Severinstraße geschlossen wird.