Kartoffeln im Glas, Chips im Kopf
Im Gegensatz zu Gesine Stabroth bin ich ein glühender Verfechter des Don’t-do-it-yourself. Gewiss, man kann lernen, eigenes Bier zu brauen, selbst eine Wohnzimmerschrankwand zu schreinern oder sich einen zugleich individuellen wie zeitlos eleganten Wintermantel zu gerben. Doch handwerklicher Hochmut kommt vor dem Fall, und die meisten Unfälle passieren ja im Haushalt. Das ist statistisch belegt! Besser ist es daher, zertifizierten Fachbetrieben den entsprechenden Auftrag zu erteilen. Oder die Scheu vor konfektionierter Massenware abzulegen und einfach etwas zu kaufen. Industrielle Produktion und Arbeitsteilung schonen Nerven und Geldbeutel.
Aber es gibt Grenzen, die zu überschreiten zwar bequem ist, einem aber die Würde raubt: Kartoffeln im Glas! Kartoffeln im Glas sind die Jogginghose unter den Konserven. Doch der technische Fortschritt kennt ebenso wenig Mäßigung wie unser Drang, es sich einfach zu machen.
Der Taugenichts aus den alten, moralisch-schwülstigen Erzählungen ist heute zum digital versierten Schlaumeier avanciert, der andere für sich machen lässt — die Algorithmen, die Maschinen und die Menschen, die uns die Pakete mit dem neuesten Plunder vor die Haustür tragen. Trägheit und technischer Fortschritt bedingen sich — sie rechtfertigen sich mit Verweis auf die unumstößliche lebensweltliche Dominanz des jeweils anderen. Unsere Faulheit, einst Todsünde, ist Antrieb für immer neue »smarte Lösungen« — bloß, für welches Problem noch mal? Eine neue Technik, die Selfies optimiert, löst ein Problem, das ohne diese Technik nicht bestünde. Dass so viel Aufhebens von der Künstlichen Intelligenz gemacht wird, gründet eben darin: Es ist ein Versprechen allumfassender Leichtigkeit.
Und doch gebiert jede neue Bequemlichkeit neue Anforderungen. Der Horror: eine Liebschaft einzugehen, deren matching die Algorithmen mit weniger als 95 Prozent veranschlagen, oder im Urlaub bloß im zweitbesten Restaurant der Stadt sein Essen zu fotografieren. Kurzum: das maximal Mögliche zu verpassen.
Künstliche Intelligenz ist die Vorhersage von Ereignissen auf der Grundlagen gesammelter Daten. Wir sind control freaks und lassen uns doch selbst kontrollieren. Die Statistik macht uns zu Statisten im eigenen Leben. Der Fluchtpunkt der Entwicklung sind Chips im Kopf, die immer schon wissen, was wir wollen, besser: wollen sollten.
Bei mir ist es so: Was ich wollte, was ich dachte, führte bislang nur zu suboptimalen Resultaten. Ja, denken zu müssen, fällt mir oft lästig: Verflixt, hab ich noch Bier im Kühlschrank? Oder hab ich gestern alles mit Tobse Bongartz weggetrunken? Schaff ich’s in zehn Minuten zu Trinkhalle Hirmsel und zurück? Und wie braut man noch mal selbst Bier, falls Trinkhalle Hirmsel heut Ruhetag hat? — Tja, warum dann das Denken nicht auslagern? Etwa an den Kühlschrank, ein netter Kumpel, der mir sagt, was ich noch brauche und wie das Bier heißt, das selbst Gesine Stabroth trinkt. Was für denjenigen mit ungeschickten Händen der Handwerker ist, das ist demjenigen mit ungeschicktem Hirn das digitale Netzwerk im smart home. Es ist ein Kampf gegen das Unwägbare, den Zufall, gegen die Enttäuschung, gegen all die Mühen! Dank Navi nie wieder Falk-Plan falten, die Geißel der Menschheit.
Aber mit der Künstlichen Intelligenz ist es wie mit künstlichem Aroma im Bier: irgendwie interessant, aber es bekommt einem auf Dauer nicht. Mir scheint, bei all dem Reden über Künstliche Intelligenz gerät die Natürliche Intelligenz (NI) aus dem Blick: Ich brauche weder den Geschmack von Kaktusfeige im Bier, noch einen Kühlschrank, der mir SMS schickt. Gut möglich, dass wir die KI bald brauchen, weil uns die NI abhanden gekommen ist. Ich habe Daten gesammelt, die das nahelegen.